Schon vor der Corona-Krise war nach Zahlen des Statistischen Bundesamts fast jeder siebte junge Bundesbürger von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. 2,1 Millionen Kinder und Jugendliche waren den Angaben zufolge im vergangenen Jahr betroffen, ihr Anteil betrug 15 Prozent.
Er sank zwar im Vergleich zum Vorjahr um mehr als zwei Punkte. Doch die Pandemie wird nach Einschätzung von Experten die Lage in vielen Familien zuspitzen.
Daten zu den Auswirkungen der Krise auf die Armutsgefährdung von Kindern gibt es zwar noch nicht, wie Antje Funcke, Expertin für Familienpolitik bei der Bertelsmann Stiftung, sagte. Besorgniserregend sei aber beispielsweise die abnehmende Zahl von Minijobs, die meist von Frauen als zweites Einkommen in die Familienkasse eingebracht würden. "Familien brauchen in der Regel zwei Einkommen", so Funcke. Auch wegen Kurzarbeit würden Ersparnisse angegriffen. Deshalb sei davon auszugehen, dass die Armut von Kindern und Familien in Folge der Pandemie zunehme.
Schlechtere Chancen bei der Schulbildung
Kinder aus armen Familien seien zudem derzeit bei der Schulbildung noch mehr benachteiligt, jedes vierte der Kinder habe keinen internetfähigen Computer zu Hause. Hinzu kämen oft beengte Wohnungen. Nachhilfe oder Betreuung von Homeschooling sei für die Familien meist nicht leistbar. Einiges sei zwar nachholbar. Doch es sei zu erwarten, dass die Bildungsungleichheit zunehme, sagte Funcke.
Die Bertelsmann-Stiftung plädiere schon länger für die Einführung einer eigenen Grundsicherung, die alle Leistungen für Kinder bündele und vom Elterneinkommen abhängig sei. "Es ist allerhöchste Zeit, dass dies umgesetzt wird", so Funcke.
Kindergrundsicherung gefordert
Neben weiteren Verbänden spricht sich auch die Arbeiterwohlfahrt (Awo) für eine Kindergrundsicherung aus. Ihr Experte für Kinderarmut, Valentin Persau, geht ebenfalls davon aus, dass sich in Folge von Corona die finanzielle Situation in vielen Familien zugespitzt hat. Einkommenseinbußen oder Arbeitsplatzverlust beträfen armutsgefährdete Menschen besonders. Damit die Krise nicht zu einem Entwicklungsrisiko für Kinder und Jugendliche werde, müssten die Investitionen steigen, etwa in die digitale Ausstattung von Schulen sowie mehr Ganztagsangebote.
Die Bertelsmann Stiftung war in einer Untersuchung zum Ergebnis gekommen, dass in Deutschland rund 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche in Armut aufwachsen - und damit 21,3 Prozent aller unter 18-Jährigen. Die Stiftung hatte sich am Familieneinkommen orientiert und Heranwachsende im Grundsicherungsbezug einbezogen, deren Familien Hartz IV erhalten.
Kriterien Armutsgefährdung
Das Bundesamt geht von Armut oder sozialer Ausgrenzung aus, wenn eines oder mehrere der drei Kriterien Armutsgefährdung, erhebliche materielle Entbehrung oder Haushalt mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung vorlägen. Es orientiert sich damit an einer europaweiten Vorgabe, was die Daten vergleichbar macht.
Demnach liegt Deutschland mit seinem Anteil von 15 Prozent Betroffenen zwar unter dem europäischen Schnitt von 22,5 Prozent - aber hinter Slowenien (11,7 Prozent), Tschechien (13,0 Prozent), Dänemark (13,2 Prozent) und Finnland (14,3 Prozent). Weitaus schlimmer ist die Situation beispielsweise in Rumänien, wo der Anteil betroffener Kinder und Jugendlicher bei 35,8 Prozent liegt, oder in Bulgarien (33,9 Prozent). Die Zahlen wurden zum Tag der Kinderrechte an diesem Freitag, dem 20. November, veröffentlicht.
Unicef warnt vor "verlorenen Covid-Generation"
Schon beim Lockdown im Frühjahr gab es große Sorgen vor einem Anstieg häuslicher Gewalt. Dies ist auch aktuell der Fall. Der Kinderschutzbund berichtete, die Anrufe von Kindern beim Hilfetelefon "Nummer gegen Kummer" hätten zuletzt deutlich zugenommen. Ein Rückzug ins Private sei gefährlich, sagte Jörg M. Fegert, Direktor der Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie der Uniklinikum Ulm. Ohne den Austausch mit anderen Kindern und Jugendlichen in der Schule werde die Gewalt seltener bemerkt. Auch Fegert verweist auf eine Schere zwischen Arm und Reich: Wo Eltern und Kinder in einer kleinen Wohnung aufeinander säßen, werde Gewalt wahrscheinlicher.
Angesichts vielfältiger Einschränkungen im medizinischen und sozialen Bereich warnt das UN-Kinderhilfswerk Unicef mit weltweitem Blick vor einer "verlorenen Covid-Generation". Je länger die Krise dauere, desto gravierender seien ihre Auswirkungen auf Bildung, Gesundheit, Ernährung und Wohlbefinden. Impfungen und medizinische Behandlungen fänden nicht statt, Mangelernährung nehme zu. Jeder dritte Schüler weltweit sei von Schulschließungen betroffen - insgesamt sind das 572 Millionen.
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