Bernd kann schon beim Öffnen der Tür abschätzen, ob sein Vater getrunken hat. Mit einem Blick weiß er, wie dessen Stimmung ist. Ist sie gut, bleibt die Schnapsflasche heute vielleicht im Schrank stehen. Ist sie schlecht, wird der 17-Jährige am nächsten Morgen wieder die Küche aufräumen und die leeren Flaschen wegbringen müssen. So wie Bernd geht es in Deutschland laut Statistik etwa 2,6 Millionen Kindern und Jugendlichen: Mutter oder Vater - manchmal auch beide - sind alkoholabhängig. Der Nachwuchs begegnet dem Problem meist mit einer schon früh erlernten Strategie: das Ganze zu verschweigen.
"In der Regel wissen noch nicht einmal die engsten Freunde davon", sagt Stefan Stark, Leiter des Suchthilfeprojekts "Drachenherz" in Marburg. Meist haben die Jugendlichen schon früh gelernt, sich auf die Krankheit ihrer Eltern einzustellen: "Sie versorgen ihre Geschwister, managen den Haushalt und müssen sich viel selbst beibringen." Deshalb wirkten sie häufig älter, als sie sind.
Dass in ihrer Familie etwas nicht stimmt, ahnen Kinder meist schon sehr früh. Doch bis sie die Gründe dafür hinterfragen, kann es dauern: "Erstmal kennen sie ja nur die eigene Familie und wissen nicht, wie es bei anderen zugeht. Mit etwa 8 Jahren entwickeln sie ein Konzept von Alkohol, mit etwa 12 können sie das Verhalten der Eltern in Bezug zum Trinken setzen", erklärt Prof. Michael Klein von der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Köln.
Die Beziehung zu den Eltern ist häufig sehr ambivalent: Auf der einen Seite dominieren Wut und Hass, auf der anderen Seite stehen die Verbindung und die Liebe zu Mutter oder Vater. Daraus resultiert bei vielen eine Trennung. "Die Jugendlichen spalten den Elternteil in zwei Personen: Es gibt die gesunde Mama und diejenige, die trinkt", erzählt Stark. Für die persönliche Entwicklung sei diese Separierung aber ungesund: "Jugendliche müssen beides integrieren und verstehen, dass beide Seiten zu Mutter oder Vater gehören", sagt Klein.
Bis sich Jugendliche Hilfe holen, ist es oft ein weiter Weg. Entscheiden sich Jugendliche, über die Situation zu Hause zu sprechen, tun sie das meist ohne das Wissen ihrer Eltern. "Wir versuchen manchmal, sie zu kontaktieren und ein gemeinsames Gespräch anzuregen", sagt Stark. Das klappe aber nicht immer.
Der psychische Druck, unter dem Kinder alkoholabhängiger Eltern stehen, ist enorm. Viele entwickeln Schuld- und Ohnmachtsgefühle. "Gerade Jüngere denken, sie müssten braver, lieber oder besser in der Schule sein, damit die Eltern aufhören zu trinken", sagt Stark. Einen Schritt weiter kommen sie nach Ansicht der Experten damit allerdings nicht. "Das ist vielleicht das Schwerste für Jugendliche: Sie müssen begreifen, dass sie ihren Eltern nicht helfen können", sagt Stark.
Wirkungsvoller sei dagegen, wenn sich die Jugendlichen auf sich selbst konzentrieren. Studien haben gezeigt, dass sie bestimmte Widerstandskräfte - sogenannte Resilienzen - entwickeln können, die ihnen helfen, die Stresssituation in der Familie zu überstehen: "Dinge wie Schreiben oder Malen helfen, die Seele zu befreien. Auch Kontakt zu Gleichaltrigen oder anderen Familien hilft, Abstand von zu Hause zu gewinnen" sagt Stark.
Dass Jugendliche die Erfahrung früher Jahre nicht abschütteln können, macht der Wert 30 Prozent deutlich: So viele Kinder aus suchtbelasteten Familien werden später selbst abhängig. "Sie überschätzen sich und denken, dass sie die Situation kontrollieren können - gerade weil sie sie hautnah miterlebt haben", erklärt Stark dieses Paradoxon. Andere haben die Gewohnheiten in der Familie von Kind an regelrecht aufgesogen und kennen nichts anderes als den Griff zur Flasche: "Die wundern sich und fragen 'Das soll eine Krankheit sein?'", sagt Niklas Quecke, Leiter der Suchtambulanz an der Universitätsklinik Duisburg-Essen. Alkohol werde von ihnen oft als einziges Mittel zur Problembewältigung angesehen.
Trotz der extremen Belastung, die Jugendliche mit trinkenden Eltern durchstehen müssen: Sich von ihnen abzugrenzen, schaffen nur die wenigsten. "Das ist der allerletzte Schritt, die meisten lassen ihre Eltern nicht fallen", so Stark. Dazu sei die Bindung trotz aller Konflikte zu stark.
Die Broschüre "Kindern von Suchtkranken Halt geben" kann kostenlos beim Freundeskreis für Suchtkrankenhilfe, Kassel, telefonisch unter der Nummer +49 561 780413 oder per E-mail unter "mail@freundeskreise-sucht.de" bestellt werden.