Der Torwart Robert Enke ist immer dann ein gern zitiertes Beispiel, wenn es um die fatalen Folgen einer nicht erkannten Depression geht. 2009 nahm sich der Spieler von Hannover 96 das Leben, weil er keinen Ausweg mehr sah aus einer Krankheit, an der geschätzt etwa vier Millionen Menschen in Deutschland behandlungsbedürftig erkrankt sind. Doch nur ein Bruchteil von ihnen wird nach Einschätzung von Prof. Detlef Dietrich von der European Depression Association angemessen therapiert. Dabei sei es bei richtiger Diagnose und Behandlung in den meisten Fällen möglich, die Erkrankung zu überwinden.
Etwa 60 bis 70 Prozent der vier Millionen seien in ärztlicher Behandlung und davon wiederum nur 50 Prozent als depressiv diagnostiziert, sagte Dietrich am Mittwoch in Berlin anlässlich des Europäischen Depressionstags am 1. Oktober. Nur 10 Prozent der vier Millionen depressiven Menschen würden adäquat behandelt.
Ohne eine solche Behandlung droht Betroffenen ein ähnliches Schicksal wie dem Hannover-96-Torwart: Viele von ihnen sind suizidgefährdet. "Robert Enke passiert jeden Tag 30 Mal", sagte Prof. Ulrich Hegerl von der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Jährlich nehmen sich 9600 Menschen das Leben - vielen von ihnen könnte Experten zufolge geholfen werden.
Denn je häufiger Depressionen erkannt werden, desto mehr Suizide lassen sich verhindern. "Wir sehen besser als früher, wie häufig Depressionen sind." Ärzte würden die Erkrankung, die sich oft hinter körperlichen Beschwerden versteckt, vermehrt erkennen und auch als Depression benennen - und nicht hinter "Ausweichdiagnosen" wie chronischer Rückenschmerz oder Tinnitus verstecken.
Das habe zur Folge, dass Betroffene mittlerweile mehr mit Antidepressiva behandelt würden und öfter Psychotherapien angeboten bekämen. "Die Versorgungssituation für die Betroffenen verbessert sich", stellt Hegerl fest. Das wiederum sei ein Grund dafür, dass die Suizidrate in Deutschland in den vergangenen Jahren von 18 000 auf aktuell 9600 zurückgegangen sei. Die Stiftung strebt allerdings an, diese Zahl in den nächsten zehn Jahren nochmals zu halbieren.
Doch was genau ist eine Depression? Jedenfalls nicht "das Traurigsein, das Bedrücktsein, dass wir aus dem Alltag kennen", sagt Hegerl. Und auch nicht die Melancholie oder Herbstdepression, die viele in der dunklen Jahreszeit so gern für sich beanspruchen. Der Mediziner von der Universität Leipzig beschreibt die Krankheit vielmehr als "hässlichen, kalten Zustand", verbunden mit dem Gefühl, dass "die Luft raus" ist. Dazu zeigt er das Bild eines aufblasbaren Plastikkrokodils, das schlaff am Boden liegt.
Den medizinischen Leitlinien für unipolare Depressionen zufolge müssen mindestens zwei Wochen lang zwei, bei einer schweren Episode drei Hauptsymptome auftreten, damit die Diagnose gestellt werden kann. Zu den Kernanzeichen zählen eine gedrückte, depressive Stimmung, Interessen- und Freudlosigkeit sowie mangelnder Antrieb und erhöhte Ermüdbarkeit. Dazu kommen mindestens zwei weitere Krankheitszeichen wie Schuldgefühle, Suizidgedanken, Appetitlosigkeit und Konzentrations- oder Schlafstörungen.
Als Ursachen für Depressionen macht die Wissenschaft ein komplexes Zusammenspiel biologischer, psychischer und sozialer Faktoren aus, das bei jedem Betroffenen anders ist. So könnten zum Beispiel Schicksalsschläge wie der Verlust einer wichtigen Bezugsperson oder Vereinsamung eine Rolle spielen, erläutert Prof. Frank Schneider von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde. Auch erfolglose Strategien, Stress zu bewältigen, oder eine emotionale Instabilität sind mögliche Faktoren.
"Eine Depression hat verschiedene Phasen", sagt Schneider. Sie könne einmalig oder mehrfach auftreten, mal stärker, mal weniger stark. Danach richtet sich auch die Behandlung. Bei leichten depressiven Episoden steht "aktives beobachtendes Abwarten", eventuell mit unterstützenden Gesprächen, an erster Stelle. Eine Psychotherapie komme infrage bei einer leichten bis mittelschweren Depression ohne Selbstgefährdung - und wenn der Betroffene Medikamente ablehnt oder sonst etwas dagegen spricht. Reicht eine Psychotherapie allein nicht aus oder ist die Depression mittelschwer, schwer oder chronisch, sind laut Schneider Antidepressiva angezeigt - eventuell in Kombination mit einer Psychotherapie.
Die Wahrscheinlichkeit, an einer Depression zu erkranken, liegt durchschnittlich bei acht Prozent. Wer einen Depressiven in der Familie hat, ist mehr gefährdet als andere. Und doch gibt es einige Faktoren, die davor schützen können, sagt Schneider. Dazu gehöre zum Beispiel die "dauerhafte, gute Beziehung zu mindestens einer Bezugsperson" und das familiäre Umfeld. Kontaktfreudigkeit und weniger Überlastung sind ebenfalls ein guter Schutz. (dpa)