Am Ende seiner irrwitzigen 100-Kilometer-Flucht schlug selbst Tadej Pogacar die Hände ungläubig vor das Gesicht und feierte sich selbst als neuen Weltmeister. Der 26-Jährige war am Ufer des Zürichsees am Ziel seiner Träume, hatte endlich das begehrte Regenbogentrikot. Sichtlich erschöpft und erleichtert fiel er seiner Freundin Urska Zigart in die Arme. Nach 273,9 enorm anspruchsvollen Kilometern wurde der Australier Ben O'Connor Zweiter vor dem niederländischen Titelverteidiger Mathieu van der Poel.
«Ich kann nicht glauben, was passiert ist. Ich habe mir so viel Druck gemacht. Wir sind für den Sieg gekommen», sagte Pogacar nach einem Tag für die Geschichtsbücher. «Es war vielleicht eine dumme Attacke, aber ich habe einfach nicht aufgegeben. Wir hatten eigentlich geplant, das Rennen zu kontrollieren. Ich weiß nicht, was ich gedacht habe.»
Dreifach-Krone für Pogacar
Damit sicherte sich Pogacar als erst dritter Profi nach Eddy Merckx und Stephen Roche die sogenannte Dreifach-Krone des Radsports. Für diesen inoffiziellen Titel muss man zwei große Landesrundfahrten und den WM-Titel im selben Jahr gewinnen. Pogacar hatte beim Giro d'Italia und der Tour de France triumphiert.
In Zürich hatte er exakt 100,7 Kilometer vor dem Ziel genug und setzte auf der viertletzten Runde an der bis zu 17 Prozent steilen Zürichbergstraße die entscheidende Attacke. So früh hatte nahezu niemand mit einem Angriff gerechnet und die Skepsis blieb. «Nach allen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit kann das einfach nicht funktionieren. Er hat zu früh zu viel Energie investiert», befand Ex-Profi und Eurosport-Experte Jens Voigt.
«Druck wird größer»
Zumal Pogacar nervös wirkte, nicht so stoisch wie üblich bei seinen Angriffen aussah. Vor dem Start hatte der Slowene eingeräumt, welche Last auf seinen Schultern lag. «Der Druck wird größer, endlich zu liefern. Wenn nicht dieses Jahr, dann auf jeden Fall im nächsten Jahr», sagte Pogacar. Es wurde dieses Jahr.
Pogacar schloss zur Spitzengruppe auf, ließ sich von seinem Teamkollegen Jan Tratnik ein wenig unterstützen - und machte sich bei der nächsten Zielpassage auf und davon. Titelverteidiger Mathieu van der Poel und Doppel-Olympiasieger Remco Evenepoel ließen ihre Teams arbeiten, doch die Lücke zu Pogacar wurde nicht kleiner.
Der Superstar hatte sich eigenes für die WM-Mission ein spezielles Rad bauen lassen. Die Lackierung wurde inspiriert von Pogacars Liebe zu Comics und Pop Art, die diversen Farben wie gelb (Tour de France) und rosa (Giro d'Italia) sollten die größten Erfolge symbolisieren. Gold fehlte - da dürfte nun nachgebessert werden.
Schweigeminute am Start
Schon der Start in Winterthur stand im Zeichen des Gedenkens an die am Freitag gestorbene Junioren-Radsportlerin Muriel Furrer. Das sechsköpfige Schweizer Team stand beim Start in der ersten Reihe neben Weltverbands-Präsident David Lappartient, es wurde wie schon im Frauen-Rennen am Tag zuvor eine Schweigeminute abgehalten. Sichtlich mitgenommen begab sich das Peloton auf die Strecke. Der Schweizer Verband hatte seinen Fahrern freigestellt, angesichts der Umstände auf einen Start zu verzichten.
Unweit der WM-Strecke in Zürich war eine Gedenkstätte eingerichtet worden. An der Wasserkirche legten Passanten Blumen nieder, zündeten Kerzen an und hielten einen Moment inne.
Am Sonntagmorgen fand zudem eine Gedenkfahrt für die Züricherin statt. Am Sechseläutenplatz versammelten sich um 7.00 Uhr viele Hobby-Rennfahrer und fuhren die WM-Runde. Olivier Senn, Sportchef der WM, hielt vor der Abfahrt eine kurze Rede, eine Schweigeminute wurde abgehalten. «Redet miteinander, fahrt schweigend, was für euch gut ist», sagte Senn. Das Feld passierte auch die Unfallstelle Furrers in einer Abfahrt in einem Waldstück. Laut einem Bericht des «Tagesanzeigers» hielten einige Hobby-Radsportler an und weinten.
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