Es ist die Ruhe vor dem Sturm. Oberstdorf, die südlichste Marktgemeinde der Republik, ist zwar seit Beginn der Weihnachtsferien voll mit Kurzurlaubsgästen, doch im Kurpark, rund um Nebelhorn-Bahn und Eislaufzentrum herrscht am zweiten Weihnachtsfeiertag eine geordnete Betriebsamkeit. Anders als in den Vorjahren ist Oberstdorf in ein dickes weißes Winterkleid gehüllt, die Temperaturen sind seit über einer Woche im Minusbereich und die Stimmung der Gäste entsprechend im Positiven. Wer Winter will, bekommt ihn in diesem Jahr auch.
Oberhalb des Ortes in der Skisprung-Arena wärmt die Nachmittagssonne wenigstens ein bisschen. Zahlreiche Zaungäste versuchen einen Blick in das Stadion zu erhaschen, das am kommenden Wochenende wieder ins Zentrum des Wintersport-Interesses rückt. Die Magie der Vierschanzentournee ist ungebrochen. Zum Auftakt der deutsch-österreichischen Wettbewerbsserie wird die Orlen-Arena, die seit einem Jahr den Namen eines polnischen Energieversorgers trägt, zur emotionalen Stimmungshochburg von enthusiastischen Skisprungfans, aber immer mehr auch zur Pilgerstätte für Männer-Ausflüge, deren Mitglieder das laute „Zieh“ der Fans allzu wörtlich nehmen und Glühwein und Gerstensaft in rauen Mengen konsumieren.
Paschke, Wellinger und Geiger sorgen für Begeisterung
Randvoll wird auch das Stadion am Schattenberg am Sonntag, wenn 25.500 mehrheitlich deutsche und österreichische Besucher die bereits seit vielen Wochen ausverkauften Tribünen füllen. Auch am Samstag zur Qualifikation wird – von Corona-Zeiten mal abgesehen – der kontinuierlich nach oben geschraubte Zuschauerrekord mit großer Wahrscheinlichkeit wieder gerissen. 16.300 waren es im Vorjahr, diesmal wird sich der Veranstalter schwertun, die Bestmarke wieder nur in 500-er-Schritten zu erhöhen. Der Weltcup-Führende Pius Paschke, Olympiasieger Andreas Wellinger – und auch der zuletzt wiedererstarkte Lokalmatador Karl Geiger – sorgen dafür, dass die Skisprung-Begeisterung zwischen den Feiertagen auch heuer ungebrochen ist. Nicht ausgeschlossen, dass es demnächst auch zur Qualifikation irgendwann einmal heißt: Ausverkauft.
Aber was treibt die Fans massenweise in die Stadien? Ist es nach wie vor die Faszination für die wagemutigen Athleten, die sich bei Wind und Wetter von der Großschanze stürzen? Oder ist es die Sehnsucht nach dem Tournee-Gesamtsieg, auf den die deutschen Skisprung-Fans seit fast 23 Jahren warten. Endlich soll er gekürt werden, der Nachfolger von Sven Hannawald, dem 2002 mit dem Grand-Slam-Erfolg (Sieg in allen vier Tournee-Orten) der letzte deutsche Erfolg gelang. Hannawald ist inzwischen TV-Experte – ebenso wie sein früherer Zimmerkamerad Martin Schmitt. Der Schwarzwälder, der zwar nie die Gesamtwertung, aber als bisher einziger deutscher Springer zwischen 1998 und 2000 dreimal hintereinander das Auftaktspringen in Oberstdorf gewann, wollte sich in den letzten Tagen nicht allzu weit aus dem Fenster lehnen. Der 46-Jährige nannte Paschkes 18. Platz in Engelberg einen „kleineren Einbruch“, traut ihm nach der Weihnachtspause aber ein Comeback aufs Podium zurück – wegen „seiner Ruhe und dem Vertrauen in sich und seine Fähigkeiten.“ Ganz entscheidend, so Schmitt, werde der erste Trainingssprung von Paschke am Samstag in Oberstdorf werden.
Engelberg hin oder her, Paschke wird die Favoritenrolle für die Tournee nicht los. Er trägt das Gelbe Trikot des Gesamtführenden im Weltcup und reist mit imposanten Vorleistungen von fünf Siegen und weiteren sieben Podestplatzierungen ins Allgäu. Der mit 34 Jahren Älteste im Team von DSV-Bundestrainer Stefan Horngacher spielt die Favoritenbürde zumindest verbal herunter. Er wolle nur den „Drive der letzten Wochen mitnehmen“ in die Tournee, sagte er. Und dass sein Selbstvertrauen stimme und er genau wisse, an welchen technischen Details er noch arbeiten müsse.
Kampfansagen an die starken Österreicher Stefan Kraft (holte vor exakt zehn Jahren den letzten Tournee-Gesamtsieg für Rot-Weit-Rot), Jan Hörl und Daniel Tschofenig hört man von Paschke nicht. Auch im deutschen Team, so hört man, will niemand Paschke den schweren Favoritenrucksack umbinden. Stattdessen reden sie ihn stark. Wellinger mildert die Altersdiskriminierung mit seinem gewohnt verschmitzten Lächeln ab, wenn er sagt: „Pius zeichnet definitiv aus, dass er die Arbeit im – in Anführungszeichen – hohen Alter immer weitermacht.“ Und Trainer Horngacher eiert ob des Erfolgsdrucks gar noch mehr rum: Zu Paschkes Werdegang sagt der 55-jährige Österreicher allgemeingültig: „Man reift im Alter, man wird ein bisschen klüger. Und wenn man dann Familie und Kinder hat, dann geht es noch mal weiter. Das kann helfen, es kann aber auch negativ sein.“ Übersetzt heißt das: Paschke kann’s schaffen. Oder eben auch nicht. Es ist wie jedes Jahr: Vor der Tournee ist irgendwie alles offen. Vielleicht macht genau das die Faszination aus ...
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