Der Jubel auf der Tribüne fiel eher verhalten aus. Gerade erst hatte Schwimmerin Lia Thomas mit riesigem Vorsprung die US-College-Meisterschaften gewonnen. Aus sportlicher Sicht durchaus eine große Leistung. Der Sport rückte in diesem Moment aber in den Hintergrund. Thomas ist die erste Transgender-Athletin, die einen Collegetitel in den USA gewann. Drei Jahre zuvor war sie noch bei den Männern angetreten – mit mäßigem Erfolg.
Schon während des Wettkampfs hatte es Proteste gegeben. "Rettet den Frauensport", war auf einem der Plakate zu lesen. Wenige Tage später kündigte der Gouverneur von Florida an, Thomas‘ Sieg nicht anzuerkennen. Für ihn hatte die Zweitplatzierte Emma Weyant "die schnellste Zeit aller Frauen". Selbst mehrere Teamkolleginnen waren der Meinung, dass Thomas einen unfairen körperlichen Vorteil besitze. Ist das wirklich so? Haben Transgender-Athletinnen einen Wettbewerbsvorteil?
Ein Experte sieht für Transgender-Athletinnen einen Vorteil
Ja, sagt Professor Jürgen Steinacker. Er leitet die Sektion Sport- und Rehabilitationsmedizin am Universitätsklinikum Ulm, zudem ist er Vorsitzender der Medizin-Kommission des Weltruderverbandes Fisa. Für ihn gibt es erhebliche biologische Unterschiede zwischen Mann und Frau, die sich mit der Pubertät herausbilden, wenn die Testosteronwirkung einsetzt. Das betrifft etwa das Größen- und Muskelwachstum, aber auch Gehirnvorgänge. Im Fall von Lia Thomas erfolgte eine Hormonbehandlung, die zu einer Geschlechtsangleichung geführt hat. Für Steinacker reicht das aber nicht aus, um von Chancengleichheit sprechen zu können: "Wenn man einen Größenvorteil oder einen Muskelmassenvorteil hat, kann man zwar mit Hormonen das Testosteron unterdrücken, aber den Vorteil kann man nur teilweise ausgleichen."
Balian Buschbaum ist da anderer Meinung. Der frühere Stabhochspringer holte zweimal den dritten Platz bei den Leichtathletik-Europameisterschaften – damals allerdings noch bei den Frauen, seinen Namen von damals möchte er heute nicht mehr geschrieben haben. 2007 beendete er seine Karriere und entschied sich, eine Geschlechtsangleichung durchführen zu lassen. Inzwischen ist er als Buchautor, Coach und Speaker tätig. Das Thema Diversität beschäftigt Buschbaum bis heute – erst vor kurzem erschien sein jüngstes Werk "Warum Diversity uns alle angeht".
Balian Buschbaum kann die Aufregung über Transgender-Sportler nicht nachvollziehen
Buschbaum kann die Aufregung im Fall Lia Thomas nachvollziehen. Trotzdem sieht er keinen generellen Vorteil von Transfrauen im Sport: "Studien haben herausgefunden, dass nach zwei Jahren Hormoneinnahme ein fairer Vergleich möglich ist. Das Hauptproblem ist, dass es an Aufklärung fehlt." Für ihn handelt es sich nicht um eine Geschlechterfrage, sondern um eine "Menschheitsfrage": "Wie offen und loyal sind wir gegenüber Diversität? Das ist die Kernfrage."
Buschbaum plädiert für klare Regeln – doch die gibt es nicht mehr. Bis vor kurzem noch galt die Richtlinie des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), wonach Transfrauen nur in der Frauenklasse starten dürfen, wenn ihr Testosterongehalt im Blut stabil unter zehn Nanomol pro Liter (nmol/l) liegt – bei Frauen liegt der Wert für gewöhnlich zwischen 0,5 und 2,0 nmol/l. Diese Regelung wurde gestrichen. Seit dem Ende der Winterspiele in Peking gibt es eine neue Richtlinie. Die Sportfachverbände sollen selbst festlegen, ab wann Transgender-Athleten einen unzulässigen Vorteil haben.
Eine IOC-Richtlinie wird in der Sportszene skeptisch gesehen
Die neue Regelung ist nicht unumstritten. Professor Steinacker zählt zu den rund 40 Unterzeichnern einer Stellungnahme, welche das neue Konzept kritisch sieht. Sein Hauptkritikpunkt: "Die IOC-Richtlinie ist eine einseitige Verbeugung vor den Individualrechten." In dem Papier wird betont, dass jeder Athlet ein Recht auf Selbstbestimmung und Privatsphäre hat. Im Zweifelsfall hätte also immer das Interesse des Athleten Vorrang, sagt Steinacker: "Das führt zu massiven Beeinträchtigungen der Fairness und des geschützten Bereichs von Frauen." Auch Ex-Sportler Buschbaum steht der Richtlinie skeptisch gegenüber: "Viele Sportverbände beschäftigen sich mit der Thematik gar nicht, es fehlen Fachkenntnisse. Eine Institution wie das IOC hätte schon klare Richtlinien für alle herausgeben können. Das ist ein Abschieben von Verantwortung."
Die unterschiedlichen Sportarten haben inzwischen ganz unterschiedliche Lösungen gefunden: Der Welt-Rugbyverband etwa hat Transfrauen grundsätzlich von der Teilnahme an der Frauenklasse ausgeschlossen – aus Sicherheitsgründen. Der Dachverband der Leichtathletik hat dagegen einen Testosteronwert von 5 nmol/l als Kriterium festgelegt.
Wenn es nach Professor Steinacker geht, ist dieser Ansatz grundsätzlich nicht verkehrt: "Die Frage muss jede Sportart entscheiden. Solange Transfrauen keinen Wettbewerbsvorteil haben, spricht nichts dagegen, dass sie am Frauensport teilnehmen." Das gelte etwa für Sportarten wie Reiten, bei denen das Pferd eine wichtigere Rolle einnehme als der Reiter. Wenn aber die Fairness des Wettkampfs nicht mehr sichergestellt sei, dürfe eine Transfrau eben nicht bei den Frauen antreten. Buschbaum fordert dagegen eine größere Inklusion: "Wir sollten aus meiner Sicht in einer offenen Gesellschaft leben, die im Moment noch nicht gelebt wird. Wir alle haben das Recht auf Ausübung unserer Individualität. Das gehört im Sport einfach dazu."
Transgender aus Dießen: Im falschen Körper geboren
Eines steht jedenfalls fest: So schnell wird die Debatte nicht enden. Noch spielt sie sich überwiegend in den USA ab. Steinacker erwartet aber ähnliches hierzulande: "Die Diskussion werden wir auch in Deutschland haben – und zwar ganz massiv."