Dimitrij Ovtcharov war unendlich traurig. Nicht nur, weil die deutschen Tischtennisspieler im Viertelfinale des Mannschaftswettbewerbs bei Olympia in Paris mit 0:3 an Schweden gescheitert waren und er sein Einzel in fünf umkämpften Sätzen verlor, „Dima“ wirkte vor allem betroffen, weil „wir das letzte Spiel von Timo nach seiner langen, großen, einmaligen Karriere verloren haben, das hat er als einer der größten Tischtennisspieler aller Zeiten wirklich nicht verdient“. Auch Timo Boll hatte sich seinen programmierten Abschied in Paris anders vorgestellt. Typisch für ihn, dass er im Moment seines internationalen Karriereendes zuerst an Nationalspieler Patrick Franziska dachte, der wegen Bolls Nominierung keine Chance bekam. „Das tut mir leid für ihn, aber ich weiß, dass er meine Nachfolge antreten wird.“
Wie das am Ende von großen Karrieren so ist, die Halle in Paris feierte ihren Helden, unabhängig davon, dass er verloren hatte. König Carl Gustaf von Schweden und Gattin Silvia erhoben sich von ihren Sitzen und applaudierten minutenlang, wie auch Dirk Nowitzki, der in den Süden der Olympia-Metropole geeilt war, um beim vermutlich letzten internationalen Auftritt seines Freundes Timo dabei zu sein. „Ein ganz Großer tritt ab“, sagte Nowitzki, der genau wusste, was Timo Boll in diesen Momenten fühlte: „Wir Athleten haben immer ein bisschen Angst davor, aufzuhören. Wenn man eine Sache 20, 25, 30 Jahre lang gemacht hat – da gehört eine gewisse Leere dazu erstmal. Das Leben danach ist aber nicht so schlimm, wie es sich anhört.“ In Paris endete eine Ära.
Timo Bolls Karriereende auf der Olympia-Bühne in Paris
Die Halle feierte Timo Boll, die Sprechchöre „Timo, Timo“ wollten nicht enden. Und das waren nicht nur seine deutschen Fans. Die Schweden Truls Möregardh, Anton Källberg und Kristian Karlsson umarmten Timo Boll lange, auch sie wissen, dass der Mann aus dem Odenwald in all seiner Bescheidenheit über Jahrzehnte eine Sportart bestimmte. Boll kämpfte mit den Tränen, aber seine Fassung kehrte schnell zurück. Er hatte sich lange auf diesen Moment vorbereitet – und trotzdem traf er ihn am Ende intensiv. „Da ist eine Leere, das spürt man“, sagte er nachher. Wie es weitergeht? „Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht genau. Früher habe ich gedacht, ich spiele bis Ende 20 und dann mache ich eine Ausbildung als Bankkaufmann. Dafür ist es nun wahrscheinlich zu spät.“ Alles lachte, und Timo Boll fand seine Fassung zurück.
Was für ein großer, großartiger Sportsmann. In Deutschland verbindet sich Tischtennis seit über zwei Jahrzehnten mit seinem Namen, international geachtet, in China geliebt. „Timo ist 43, irgendwann musste es ja so weit sein. Wir müssen das kompensieren, aber das kann man nicht kompensieren. Timo ist herausragend, der Beste, den wir jemals hatten“, sagte Bundestrainer Jörg Roßkopf, einst an der Seite von Steffen Fetzner Doppel-Weltmeister. Ihn schmerzte wie Boll und Ovtcharov aber erst einmal die Niederlage gegen Schweden.
Paris verneigt sich: Timo Bolls letzter großer Auftritt
Seit der Premiere 2008 in Peking gewann die deutsche Mannschaft immer eine Medaille. „Wir wollten weit kommen, aber die ganze Arbeit war umsonst, die Schweden sind an uns vorbeigezogen“, stellte Boll realistisch fest. Das Doppel an der Seite von Dang Qiu („Wie der große Timo mich in der Nationalmannschaft aufgenommen hat, werde ich nie in meinem Leben vergessen“) verloren sie chancenlos, und nach Ovtcharovs Fünfsatz-Niederlage gegen den aktuellen Olympia-Zweiten Möregardh („Ich habe wirklich alles gegeben“) verlor auch Boll sein Einzel mit 1:3 gegen Källberg. Roßkopf: „Wir haben immer Medaillen gewonnen. 20 Jahre lang. Aber das Tischtennis verändert sich, wir müssen uns umstellen und neu aufstellen.“ Ohne Timo Boll.
„Ich kann ganz zufrieden sein, wie die vergangenen 25 Jahre gelaufen sind. Und ich werde wirklich sehr viel vermissen“, sagte Boll nach dem 0:3. Sein Abschiedsschmerz war greifbar. „Ich kenne die Jungs schon so lange, mit Dima spiele ich seit 18 Jahren in der Nationalmannschaft, das ist eine lange Zeit, die nun endgültig zu Ende ist. Ich glaube, gerade bin ich sehr emotional.“ Durchatmen, mehrmals, kurz schlucken. Wie es jetzt mit ihm weitergeht? „Ich weiß es noch nicht genau.“ Bundestrainer? „Der Rossi macht das super. Ich brauche ein, zwei Jahre, um den Kopf freizubekommen, es gibt Angebote, ein paar Sachen ausprobieren, und dann entscheiden, was etwas für mich ist. Ich wollte mich nicht zu früh festlegen, dazu war ich noch viel zu sehr Sportler. Ich lasse meine Karriere in der Bundesliga mit Borussia Düsseldorf ausklingen. Und dann schaue ich, wie es weitergeht.“
Dirk Nowitzki verfolgte den Abschied seines Freundes Boll
Dirk Nowitzki war ganz bewusst in die Halle gekommen. Das wollte sich die NBA-Ikone nicht nehmen lassen. Seit den Olympischen Spielen 2008 in Peking sind sie Freunde: „Ich bin froh, dass ich dabei sein konnte. Ich habe Timo kennengelernt bei den Olympischen Spielen in Peking, wir sind seitdem sehr gut befreundet. Wir sehen uns oft im Jahr, schreiben uns oft. Er ist ein herzensguter Mensch.“
Wie Nowitzki geht Boll als einer der größten deutschen Sportler in die Geschichte ein, mit all seiner Dominanz, mit seiner einsamen Klasse – und in seiner sprichwörtlichen Bescheidenheit, beide wirklich herausragende Sportler und Menschen. Vier Mannschaftsmedaillen bei Olympia, zweimal Silber, zweimal Bronze, zweimal Edelmetall im Einzel bei Weltmeisterschaften, acht Einzel-Titel bei Europameisterschaften hat der ehemalige Weltranglisten-Erste in seiner großen Karriere gesammelt, von den deutschen Championaten abgesehen. Nowitzki: „Er hat alles seinem Sport gegeben, ich habe immer Kampfschwein zu ihm gesagt. Timo ist ein Odenwälder Kampfschwein.“
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