Es ist das möglicherweise größte Kunststück in der an Kunststücken wahrlich nicht armen Karriere des Thomas Müller. Er hat es geschafft, mit eher durchschnittlichen körperlichen Voraussetzungen einigen der widerspenstigsten Gesellen des Weltfußballs zu entwischen und ihnen enorm zuzusetzen. Der altinternationale Portugiese Pepe war während des ersten Gruppenspiels der WM 2014 zwar noch nicht ganz so alt wie heute (41), aber schon sehr international. Jedenfalls war er auch sehr genervt von dem immerzu überall rum rennenden Müller, dass er ihm erst die Hand ins Gesicht streckte und ihm anschließend einen kleinen Kopfstoß mitgab. Rot für Pepe. Ungefährdeter Sieg für Deutschland. Müller traf während des Turniers fünf Mal, Deutschland feierte den WM-Titel.
Vier Jahre zuvor hatte Müller ebenfalls fünf Mal während der Weltmeisterschaft getroffen. Unerhört für einen Spieler ohne schnell zu erkennende außergewöhnliche Fähigkeiten. Nicht besonders schnell. Die Trickkiste so groß wie die Varianz seiner Frisur. Sein Schuss: platziert, aber nicht besonders hart. Auch einigen seiner Trainer offenbarten sich die Fähigkeiten kaum. Niko Kovac beispielsweise degradierte Müller zum Ergänzungsspieler und ließ ihn wissen, dass seine Chance komme, „wenn Not am Mann“ sein sollte. Ein Thomas Müller ist kein Notnagel. Müller spielt immer. Sagte zumindest zu Beginn dieser außergewöhnlichen Karriere Louis van Gaal. Das gilt nun schon länger nicht mehr und der Offensivspieler hat sich auch schon längere Zeit damit arrangiert.
Auch Thomas Tuchel setzte Müller nur sporadisch ein
Das größte Kunststück Müllers besteht nun darin, seine Karriere in der Nationalmannschaft aus eigenen Stücken beendet zu haben. Wie am Mittwoch bekannt wurde, wird der 34-Jährige nicht mehr für die Nationalmannschaft spielen. Dass er es während der EM noch tat: wahrlich mirakulös. Denn er kam ja im Verein nicht mehr über die Rolle des Ergänzungsspielers hinaus. Thomas Tuchel setzte Müller nur noch sporadisch ein. Anders als unter Kovac hatte Müller diesmal aber Verständnis für die Maßnahme. Er verfügt in einem Geschäft, das von Einflüsterern und Schulterklopfern geprägt ist, über eine erstaunlich gute Selbsteinschätzung. Für sein Spiel ist das von maximaler Bedeutung. Würde Müller glauben, er könnte zaubern wie Messi oder sprinten wie Mbappé, würde er in der Kreisliga Zugspitze gegen den MTV Berg oder den FC Real Kreuth spielen. Müller aber spielt immer noch gegen Real Madrid.
Im Viertelfinale der EM nervte er nochmal Dani Carvajal und Rodri. Julian Nagelsmann brachte ihn als letzte Hoffnung. Auf dass er erneut bisher unbekannte Räume deute oder irgendwie irgendwelche Müller-Sachen mache. Mit Müller fiel der späte Ausgleich, mit Müller verloren die Deutschen aber dennoch. Eine Niederlage im letzten Spiel seiner Nationalmannschafts-Karriere, genauso wie es eine Niederlage in seinem ersten Spiel gab. Damals gegen die von Diego Maradona trainierten Argentinier. Als der Göttliche glaubte, ein Ballkind blockiere einen Sitz während der anschließenden Pressekonferenz, verlässt er den Raum. Es war Müller, der da saß. Wenige Monate späte köpfte jener Müller das 1:0 gegen Argentinien bei der WM 2010. Die Deutschen gewinnen das Viertelfinale 4:0, Müller wird Torschützenkönig.
Bei Europameisterschaften gelingt Müller kein einziges Tor
Weltmeisterschaften liefen für ihn besser als Europameisterschaft. Weder 2012 noch 2016, 2021 oder 2024 gelang ihm während einer EM ein Tor. Als Goalgetter aber war er zuletzt auch nicht mehr vorgesehen. Nagelsmann bezeichnete ihn als „Connector“, nominierte ihn als Schmiermittel zwischen den unterschiedlichen Persönlichkeiten. Er könne es eben „mit Rappern und Jodlern“ gleichermaßen sagte Müller dazu. Eine Fähigkeit, die auch Joachim Löw und Hansi Flick zu schätzen wussten - und trotzdem planten sie zeitweise ohne ihn. Nach der WM 2018 spielte Müller in den Überlegungen des damaligen Bundestrainers zwar schon eine Rolle, aber nur insofern, als er lässlich sei. Drei Jahre später berief Löw ihn doch wieder für die EM. Nach der missglückten WM in Katar ging Flick in die folgenden Partien ohne Müller. Der hatte immer gesagt, dass er der Nationalmannschaft zur Verfügung stehe, wenn er gebraucht werde. Zwischenzeitlich sah es so aus, als würde er nicht selbst bestimmen können, wann denn den Schluss ist.
Nach seinem 131. Länderspiel sagte er: „Realistisch betrachtet ist es schon möglich, dass das mein letztes Länderspiel gewesen ist.“ Kurz zuvor hatte seine Mannschaft das Viertelfinale der EM verloren. Er wollte sich „im Nachgang mit dem Bundestrainer zusammensetzen. Wir haben ein sehr vertrauensvolles Verhältnis.“ Man saß mittlerweile offenbar zusammen. Müller müllert nicht mehr in der Nationalmannschaft. Er durfte selbst über sein letztes Spiel bestimmen. Es ist das größte Kunststück im Profisport.
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