Novak Djokovic braucht das. Dieses Gefühl, nicht bedingungslos geliebt zu werden. So steht der Serbe also auf dem Platz und genießt die Buhrufe. Ihm fliegen die Pfiffe um die Ohren, wie sonst nur dem FC Bayern bei Auswärtsspielen. Djokovic zieht daraus seine Kraft. In diesen Momenten konzentriert er sich noch stärker, wird sich seiner Aufgabe noch bewusster. Aus seinen Augen strahlt die pure Entschlossenheit. Dem Gegner gibt das das Gefühl der Ohnmacht, der Chancenlosigkeit.
Djokovic ist ein Meister darin, seinem Gegenüber unmissverständlich eine klare Botschaft zu vermitteln: bloß nicht an den Sieg glauben, das wird heute nichts. Djokovic hat lange dafür gebraucht, sich diese Herangehensweise zu verdienen. In seinen Anfangsjahren bei den professionellen Tennisspielern streikte häufiger sein Körper. Er musste Spiele frühzeitig aufgeben. Kaum zu glauben, schaut man auf den Modellathleten von heute.
Novak Djokovic ist 36 Jahre alt. Es soll Profisportler geben, die ein solches Alter durchaus als Empfehlung erachten, so langsam Richtung Karriereende zu denken. Vor allem nach solchen Erfolgen. Djokovic aber sagte am Montag vor dem Eiffelturm in Paris: "Die Reise ist noch nicht vorbei. Solange ich noch Grand Slams gewinne, warum sollte ich überhaupt daran denken, meine Karriere zu beenden?"
Djokovic hält die Herausforderer mühelos in Schach
Und Djokovic kann noch Grand Slams gewinnen. Bewiesen am Sonntag auf dem Sand von Paris. In drei Sätzen zeigte er dem überforderten Casper Ruud, dass Weltklassetennis keine Frage des Alters ist. Djokovic hat brilliert, ein weiteres Mal in diesem Turnier. Schon im Halbfinale war ihm der 20-jährige Herausforderer Carlos Alcaraz nicht gewachsen.
In den vergangenen Monaten war im Welttennis eine Debatte um den bisher besten Spieler entstanden. Die dürfte seit Sonntag beendet sein. Nicht nur die Zahlen belegen Djokovic' Ausnahmestellung. Er hat mittlerweile 23 Grand-Slam-Turniere gewonnen, sie sind die härteste Währung im Welttennis. Kein anderer Spieler hat das geschafft. Jahrelang schienen die 14 Erfolge von Pete Sampras als Glanzleistung, die alles überstrahlt und von keinem Konkurrenten zu wiederholen ist. Bis die Ära von Roger Federer, Rafael Nadal und eben Novak Djokovic begann. Die drei trieben sich zu Höchstleistungen.
Federer hat seine Karriere beendet, er blieb bei 20 Grand-Slam-Siegen. Nadal sammelte 22 solcher Erfolge, seit Sonntag hat Djokovic eines mehr gewonnen als der Spanier. Dass der zurückschlägt, ist unwahrscheinlich. Wegen anhaltender Verletzungsprobleme muss Nadal Turnier um Turnier absagen, 2024 soll seine Abschiedstour sein. Djokovic dagegen wird bleiben. Er spielt und gewinnt einfach weiter. "Ich bin immer noch motiviert, immer noch inspiriert, das beste Tennis bei Grand Slams zu spielen. Dies sind die Turniere, die am meisten in der Geschichte unseres Sports zählen", sagte der 36-Jährige.
In diesem Jahr möchte er das schaffen, was ihm 2021 knapp misslungen ist. Alle vier Grand-Slam-Turniere eines Jahres zu gewinnen. Also in Melbourne, Paris, Wimbledon und New York. Vor zwei Jahren hatte er die ersten drei Hürden bereits übersprungen, bei den US Open stand er im Endspiel. Er verlor deutlich gegen den Russen Daniil Medwedew, weil er sich selbst zu sehr unter Druck gesetzt hatte. Der Perfektionist wollte an diesem Tag alles – und bekam nichts.
Manchmal wandelt Djokovic auf seltsamen Pfaden
Zahlen sind wichtig für Djokovic. Dass er vor Federer und Nadal liegt, freut ihn. Er weiß: die Sympathien der Fans gehören den beiden anderen. Der Rekord aber, der steht hinter seinem Namen. Am Sonntag saß Tom Brady in Paris auf der Tribüne. Der Quarterback holte noch mit 43 Jahren den Super Bowl, die begehrteste Trophäe im American Football. "Ich habe immer noch Zeit, Tom", rief ihm Djokovic zu.
Zeit, weitere Erfolge zu feiern. Zeit, weiter das zu tun, was er liebt: Tennis spielen. Mit einer Perfektion, die selten ist. Djokovic wandelt dabei manchmal auf seltsamen Pfaden. Ihm wird eine Nähe zu Pseudowissenschaft und Esoterik nachgesagt, mit seiner Weigerung einer Corona-Impfung brachte er sich womöglich selbst um weitere Grand-Slam-Titel. So saß er Anfang 2022 wegen eines fehlenden Visums in einem schäbigen Abschiebehotel in Melbourne, statt bei den Australian Open zu spielen. "Er ist kein einfacher Junge, besonders, wenn etwas nicht nach seinem Willen läuft", sagte sein Trainer Goran Ivanisevic.
Boris Becker, der Tennis-Altmeister, kennt sich mit schwierigen Charakteren aus. Er selbst hat Djokovic zeitweise trainiert. Er wünscht sich, dass die Menschen beginnen, den Serben mehr zu mögen. Dass sie seine Leistung mehr zu schätzen wissen. Andererseits wäre dann vielleicht Schluss mit den Pfiffen. Die aber braucht der 36-Jährige, um seine Höchstform zu erreichen.