Die grauenvolle Gewissheit kommt gegen zwei Uhr morgens. Seit mehr als einer Stunde haben Richard Norris Williams II. und sein Vater Charles Duane an diesem 15. April 1912 nicht an sich gedacht, sondern an Frauen, Kinder und Ältere. Es herrscht Chaos auf der Titanic, diesem angeblich unsinkbaren Luxusliner, der kurz vor Mitternacht im Atlantik einen Eisberg gerammt hatte und dessen Bug bereits im Wasser verschwunden ist. Menschen schreien, Metall bricht, und Hilfe ist nicht in Sicht. Dennoch haben Richard, 21 Jahre alt, angehender Harvard-Student und talentierter Tennisspieler, und Duane Williams, ein Anwalt aus Philadelphia, zahlreichen Passagieren in die Rettungsboote geholfen, selbstlos und selbstverständlich. Doch jetzt wird ihnen klar, dass für sie kein Boot mehr übrig ist und sie um ihr Leben schwimmen müssen.
Der Vater wird von einem Schornstein erschlagen
Bevor sie ins eiskalte Wasser springen, wird Duane Williams von einem einstürzenden Schornstein erschlagen. Richard Williams erstarrt, doch ihm bleibt keine Zeit zum Trauern. Alles muss jetzt schnell gehen. Er klettert auf eine Brüstung, springt fünf Meter tief und schwimmt „mit aller Kraft“. Der Pelzmantel über seiner Rettungsweste erschwert das Entkommen. Aus einiger Entfernung sieht er schließlich, wie der Stahlkoloss um 2:20 Uhr untergeht - „ohne Lärm, völlig geräuschlos“.
Williams erreicht ein Rettungsboot, das umgekippt im Wasser treibt. Neben ihm klammern sich etwa 30 weitere Personen an den hölzernen Rumpf. Nur 13 von ihnen überleben die Stunden im eiskalten Atlantik-Wasser. Als das Passagierschiff Carpathia Williams rettet, ist er ausgezehrt und völlig unterkühlt. Seine Beine sind rot-lila, er kann sie nicht mehr fühlen. Ein Schiffsarzt legt ihm eine Amputation nahe, Williams schüttelt den Kopf. „Meine Beine brauche ich noch“, entgegnet er. Richard Norris Williams hatte schließlich noch viel vor - auf dem Tennisplatz. Und tatsächlich: zwei Jahre später, am 1. September 1914, gewinnt er in Newport/Rhode Island die amerikanischen Tennis-Meisterschaften, das Vorgängerturnier der US Open, die derzeit in New York stattfinden.
Der Enkel weiß das meiste über seinen Opa aus dessen Memoiren
Wenn Quincy Williams von seinem Großvater Richard Norris Williams II., erzählt, wirkt er zögerlich, spricht von einem „bescheidenen Mann, der nicht gern über sich selbst redete“. Aber so richtig an ihn erinnern kann er sich nicht mehr. Denn Quincy Williams war neun, als sein Großvater 1968 starb. Das Meiste, was er über ihn weiß, hat er aus dessen Memoiren erfahren. Die Tenniserfolge und seine Zeit als Soldat im Ersten Weltkrieg. Und wie er den Untergang der Titanic überlebte.
Richard Norris Williams II. kommt 1891 in Genf zur Welt. Aufgrund gesundheitlicher Probleme seines Vaters sind die Eltern von Philadelphia in die Schweiz gezogen, um leichteren Zugang zu Heilbädern zu haben. Duane Williams bringt seinem Sohn das Tennisspielen bei, 1911 ist dieser erstmals Schweizer Meister. Im Herbst 1912 will er an der Harvard-Universität studieren und Tennis spielen. Um ihn auf beide Aufgaben vorzubereiten, planen die Eltern, ihn bereits im Februar in die Vereinigten Staaten zu schicken. Williams soll an den Sommerturnieren teilnehmen und an der Milton Academy lernen. Doch Williams bekommt die Masern und muss die Reise verschieben.
Als sein Vater von der Jungfernfahrt der Titanic hört, bucht er zwei Erste-Klasse-Tickets. Richard und Duane Williams gehören zu den 274 Passagieren, die am 10. April 1912 in Cherbourg an Bord gehen. Vier Tage später sitzen sie zum Abendessen am Tisch von Kapitän Edward Smith. Alle hätten sich die Mägen vollgeschlagen, schreibt Richard Williams später einem anderen Titanic-Überlebenden.
Williams‘ Beine waren zeitlebens von Erfrierungen gezeichnet
Als das Schiff einen Eisberg rammt, werden er und sein Vater aus dem Schlaf gerissen. Panik, sagt Williams, sei aber nicht ausgebrochen. Duane Williams hatte Jahre zuvor auf dem Atlantik ein Schiffsunglück überlebt und versichert seinem Sohn: „Selbst wenn die Titanic stark getroffen ist, kann sie mindestens 12 bis 15 Stunden über Wasser bleiben.“
Nur zwölf Wochen nach der Katastrophe spielt Richard Williams wieder ein Tennis-Turnier. Es kommt ihm entgegen, dass die Kleiderordnung weiße, lange Hosen vorschreibt. Denn seine Beine bleiben zeitlebens von den Erfrierungen gezeichnet. Trotzdem hat er Erfolg. Am 1. September 1914 gewinnt Williams die amerikanischen Meisterschaften. Im Finale besiegt er den Champion der beiden vorangegangenen Jahre, Maurice McLoughlin.
Die Berichterstattung in der New York Times kommt einer Hommage gleich. Von „einer der größten Überraschungen seit Ewigkeiten“, einem „brillanten Spiel“ und „einem völlig überforderten Titelverteidiger“ ist dort zu lesen. Weitaus überraschender als Williams’ Sieg ist aus heutiger Sicht jedoch, dass es im Text ausschließlich um die sportliche Leistung des 23-Jährigen ging. Dabei hatte Williams seinen größten Sieg nicht an jenem Dienstag auf dem grünen Rasen des Newport Casino errungen, sondern am 15. April 1912 im kalten Wasser des Atlantiks.
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