So ein Olympiasieg kann das Leben ganz schön durcheinander wirbeln. Carina Vogt weiß das. Im Februar gewann die Skispringerin überraschend Gold bei den Winterspielen in Sotschi. Seitdem ist alles anders. Die 22-Jährige ist ein bisschen nervös, als sie anfängt zu reden. So ein Interview sei vergleichbar mit der Nervosität vor einem Sprung, sagt sie und lacht. "Ich weiß ja nicht, was für Fragen kommen." Mit dem Bundestrainer Andreas Bauer aus Oberstdorf ist die 22-Jährige zu Gast in unserer Augsburger Zentralredaktion. Vor ihrem Sieg in Sotschi hat sie nur selten Interviews geben müssen. Skispringerinnen fristen ein Nischendasein in der Welt des Wintersports. Die Männer dominieren in der öffentlichen Wahrnehmung. Noch. In Sotschi durften die Frauen erstmals um olympisches Gold springen. Vogt nutzte die historische Chance.
"Danach gab es sehr viele Anfragen von großen Zeitungen und Fernsehsendern", erzählt die junge Frau aus Degenfeld in der Nähe von Schwäbisch Gmünd. Sie gab Interviews, trat in Fernsehsendungen auf, zeigte Stefan Raab bei TV Total eine Trainingsübung fürs Skispringen. "Das ging von 0 auf 100. Zuerst war es einfach, das zu bewältigen. Aber irgendwann wurde es auch anstrengend." Zu dem Rummel kamen Probleme mit dem Knie. Im Frühjahr musste ein Überbein unter der Patellasehne entfernt werden, in der Sehne selbst steckten Knochenteilchen. Vogt hatte deshalb oft nur mit Schmerzmitteln springen können. Nach der Operation ging neben dem Aufbautraining die Ausbildung bei der Bundespolizei weiter. So ein Olympiasieg bringt jede Menge Stress mit sich.
Kraftraum statt Schanze für Carina Vogt
Irgendwann aber nahm das Interesse wieder ab. Das Knie verheilte gut. Die neue Saison rückte in den Blickpunkt. Bis zu 500 Trainingssprünge absolvieren die Sportlerinnen im Sommer. Vogt schaffte nur einen Bruchteil davon. Das Knie ließ erst ab Mitte September die extremen Belastungen bei Absprung und Landung zu. Vogt schwitzte stattdessen im Kraftraum. Arbeitete an der Athletik und an der Schnellkraft. Für die Erfolge von gestern gibt es heute nichts mehr. Ihre Goldmedaille hat Vogt zuhause in einer Schachtel deponiert.
Das Frauenskispringen hat sich in beeindruckendem Tempo zu einem professionellen Sport entwickelt. Wer nicht optimal vorbereitet ist, springt hinterher. Das erste Weltcupspringen der Saison verlief auch deshalb nicht nach Wunsch. Vogt landete in Lillehammer auf Platz 19. Kein Problem, sagt der Bundestrainer. "Nach so einer Operation dauert es seine Zeit, bis alles wieder optimal funktioniert." Deutsche Bilanz von Sotschi: ernüchternd
Skispringen gilt als eine der komplexesten Sportarten überhaupt. Neben der körperlichen Verfassung, dem Material und den äußeren Bedingungen ist die mentale Stärke ein entscheidender Faktor. Wer anfängt nachzudenken, hat schon verloren. "Wenn ich oben auf der Schanze sitze, muss ich nur genau das abrufen, was ich im Training auch immer mache", sagt Vogt. Klingt so einfach. Und ist doch so schwer.
Vogt hielt dem Druck stand - die Konkurrentinnen nicht
In Sotschi musste Vogt als Führende des ersten Durchgangs im zweiten als Letzte springen. Viel Zeit, um sich Gedanken zu machen, sich die Frage zu stellen: Was wäre wenn? Genau in dieser halben Stunde aber habe Vogt die Goldmedaille gewonnen, sagt der Bundestrainer. "Sie hat es geschafft, sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Sie hatte Kopfhörer auf, hat ihre Musik gehört. Carina hat dann einfach noch einmal ihre Leistung abgerufen und es hat zum Olympiasieg gereicht."
Die Konkurrentinnen hielten dem Druck nicht Stand. Auch deshalb stand am Ende eine 22-Jährige vom SC Degenfeld ganz oben, die 16 Jahre zuvor im Ferienprogramm der Gemeinde die ersten Sprungversuche unternommen hatte. Die sich bis heute an der Geschwindigkeit und dem Gefühl des Fliegens berauschen kann. Diese Faszination sollen auch andere Mädchen kennenlernen. Vogts Olympiasieg hat einen kleinen Boom ausgelöst, sagt Bauer. Im Sommer seien 150 Kinder zum Schnuppertraining nach Oberstdorf gekommen. "Im internationalen Vergleich haben wir neben Japan die größte Basis." Am 24./25. Januar macht der Weltcupzirkus im Allgäu Station. Noch aber ist es ein weiter Weg, bis die Frauen so populär sind wie die Männer. Immerhin: Bei der Wahl zu Deutschlands Sportlerin des Jahres gehört Vogt zum Favoritenkreis. Die Entscheidung fällt am Sonntag. Und wie es ist, als Außenseiterin zu gewinnen, weiß Vogt inzwischen.