Es dämmert über dem Sportgelände der Universität von Pretoria. Zwei Flutlichtmasten werfen ein trübes Gelb auf die kleine Leichtathletik-Arena. Zwei Mannschaften spielen Fußball. Mitten unter ihnen ein kleiner Kerl in einer knielangen Trainingsjacke. Als ein Spieler zu Boden geht und liegen bleibt, trabt der Kleine zur Unfallstelle. Die anderen treten zur Seite, als käme der Messias. Der Kleine tätschelt dem Spieler die Schulter, der schlagartig geheilt zu sein scheint.
Zufällige Beobachter könnten den Kleinen für den freundlichen Schiedsrichter halten, schließlich trägt er eine Pfeife um den Hals. Manchmal benützt er sie auch. Meist aber hört man nur seine kehlige Stimme.
Diejenigen, die sie hören, sind keine zufälligen Beobachter. Unter dem alten Tribünendach, von dem der Vogeldreck regnet, haben sich etwa 100, überwiegend argentinische Journalisten und zwei Dutzend Kameras versammelt. Jeder weiß, dass dieser Kerl kein Schiedsrichter, sondern Trainer ist. Auch wenn das die meisten von ihnen vor einigen Monaten noch abgestritten haben. Zweifellos aber würden die Versammelten, mit allem, was sie haben, dafür eintreten, dass dieses Männchen, dessen Fülle von der Dämmerung gnädig verschleiert wird, der beste Fußballer war, den es auf diesem Planeten gegeben hat. Würde man entgegnen, "und was ist mit Pelé?", stießen sie nur ein entrüstetes "No" hervor.
Fast alle haben Maradona noch spielen sehen. Diesen 1,65-Meter-Mann, der die Fußballwelt verzaubert hat wie nach ihm keiner mehr. Gerne sähen sie es jetzt, wie ihm einer den Ball überlässt, wie er die Kugel hochnimmt, sie in den Nachthimmel schießt, im Nacken auffängt, um den Körper kreiseln lässt und gefühlvoll einem seiner Nachfahren zuschiebt. Früher hat er sich auf diese Weise warm gespielt - und 60.000 im Stadion haben sich ehrfürchtig von ihren Plätzen erhoben. Ob beim FC Barcelona, beim SSC Neapel, dem er die einzige italienische Meisterschaft bescherte, oder in der argentinischen Nationalmannschaft, mit der Maradona 1986 im Finale gegen Deutschland den Titel gewann und ihn 1990 gegen die Deutschen verlor - immer drehte sich alles um ihn.
Weitere vier Jahre danach führte ihn eine Krankenschwester vom Platz. Als alternder Fußball-Gott war er zum Dopingsünder geworden. Ein Bild, das um die Welt ging. Was folgte, war ein Absturz, wie ihn nicht einmal Rock-Legenden zustande bringen.
Es gab Jahre, da musste man fürchten, die nächste Nachricht über ihn würde seine Todesnachricht sein. Sein Leben ging aus dem Leim, wie er selbst. Irgendwann wog Maradona 120 Kilo. Drogen, Vaterschafts- und Steuerprozesse, ein Herzinfarkt, Fressanfälle - und wieder Drogen. Zwischenzeitlich hielt er sich für Gott, was sein Dasein nicht einfacher machte. Fußballverrückte Argentinier unterstützten ihn in seinem Glauben und gründeten die Kirche Iglesia Maradoniana. In Südamerika hat Fußball mehr mit Religion zu tun als sonst wo. Für viele Argentinier ist Maradona ein Heiliger.
Maradona war es damals wie vielen Fußball-Göttern auf ihrem Weg ins Irdische ergangen. Sie sitzen noch in den Stadien, wenn das Leben schon weitergezogen ist. 2006 saß er beim Sommermärchen - mit halbiertem Magen, 50 Kilo leichter. Er hatte vorher wieder sozialversicherungspflichtige Arbeit gefunden. Fernsehsender, die sich nicht davon abschrecken ließen, dass Argentiniens Zuschauer ihren Helden zum schlechtesten Moderator gewählt hatten, beschäftigten ihn als Kommentator.
Maradona stand auf der Tribüne des Frankfurter Stadions. Er trug sein Trikot mit der Nummer zehn. Er war noch immer Spieler. Unten auf dem Platz lief Argentinien - Holland, oben tanzte Diego. Er war das Maskottchen der Argentinier. Es ist manchmal peinlich, wenn das Maskottchen einen Helden von früher trifft. Die meisten tragen Anzug und Krawatte und düsen in einem höheren Auftrag um die Welt. Diego trug sein altes Trikot und flog von Spiel zu Spiel. Zur WM 2002 hatten ihn Japaner und Südkoreaner ausgesperrt. Sie wollten keinen Drogensüchtigen im Land haben.
Jetzt ist wieder WM - und Maradona mittendrin. Einige sagen sogar, er sei ihr größter Star. Das hat aber vor allem damit zu tun, dass sich auf dem Spielfeld noch keiner für diese Rolle empfohlen hat. Maradona trägt inzwischen edle, silbern glänzende Anzüge und einen Vollbart. Er sieht jetzt aus wie eine Mischung aus spanischem Opernsänger und italienischem Paten und ist doch ein liebenswerter Hofnarr in den falschen Klamotten. Wenigstens nach außen hin aber will er ein Trainer sein.
Das ist schwierig, so wie er an das Amt geraten ist. Der 49-Jährige hat keine Minute Trainerausbildung absolviert. Er bringt mit, was er sich von seinen Trainern abgeschaut hat - aber das ist nicht viel. Der Spieler Maradona hat sich nie darum gekümmert, was ein Trainer gesagt hat. Warum sollte ein Auserwählter darauf hören, was ihm einer von der Schulbank sagt?
Maradona kann somit nur ein Bauchtrainer sein. Einer, der von der Intuition lebt. Von dem also, was sich nicht lernen lässt.
Trotzdem, oder vielleicht auch deshalb, haben ihm die Argentinier ihre Nationalmannschaft anvertraut. Eine Entscheidung, die mit der Hoffnung verbunden war, ein Fußball-Charismatiker würde mehr zustande bringen als ein Fußball-Lehrer. Maradona hat diese Hoffnung lange nicht erfüllt. Argentinien quälte sich durch die WM-Qualifikation. Journalisten, die den Trainer dafür kritisierten, weckten wieder das böse Kind in ihm. Maradona spuckte unflätig Gift und Galle. Anders als früher schon einmal verzichtete er immerhin darauf, die Journalisten mit einem Luftgewehr zu beschießen.
Nun aber steht der Mann mit seiner Mannschaft im Viertelfinale der WM. Am Samstag trifft er auf Deutschland. Argentinien hat bei dieser Weltmeisterschaft bislang ordentlich gespielt, wenn auch nicht mitreißend. Trotzdem sind die Südamerikaner einer der großen Favoriten auf den Titel. Sie haben Lionel Messi, den besten Spieler der Welt. Ein 1,69 Meter kleiner Wiedergänger Maradonas. Dazu manch anderen von großem Format, den der Trainer nach einem zweijährigen Casting aus 100 getesteten Spielern ausgewählt hat.
Diego Armando Maradona genießt die Trainerrolle, die er spielt.
"Man hat vorher gesagt, als Coach hätte ich keine Ahnung und keine Ideen. Plötzlich gewinne ich vier Spiele", erzählt er. Joachim Löw, der am Samstag im Stadion von Kapstadt einige Meter neben ihm auf der Bank sitzen wird, ist das Gegenteil von Maradona. Ein ehemals ordentlicher Zweitliga-Spieler, ausgebildet und erfahren. Einer, der penibel auf Vorbereitung, Taktik und Strategie setzt. Dazu ist Löw Badener. Der 50-Jährige würde nie sagen: ". . . gewinne ich vier Spiele." Er sagt "wir", weil er weiß, dass die Deutschen nur mit ihrem Teamgeist gegen Argentiniens überragende Einzelkönner zu gewinnen vermögen.
Maradona pflegt sein Ich. Die Spieler bestärken ihn darin.
"Es ist ein Privileg, ihn auf der Bank zu sehen", schwärmt WM-Torjäger Gonzalo Higuain.
"Er fühlt wie ein Spieler", sagt Bayern-Verteidiger Martin Demichelis. Wer das nicht glaubt, hört es von Maradona selbst. "Ich würde am liebsten dabei sein", sagt er mit Blick auf das Spiel gegen Deutschland. "Ich will mir ein Leibchen anziehen und spielen." Er könnte das sogar. Der Betrieb an der Seitenlinie liefe auch ohne ihn.
Seine Berater würden die Geschäfte übernehmen. Einer davon ist Hector Henrique. Er spielte Maradona 1986 den Ball zu dessen weltberühmtem Sololauf im WM-Viertelfinale gegen England zu. Der Geniestreich gilt als "Tor des Jahrhunderts". Dass Maradona in diesem Spiel den Engländern auch sein "Hand-Gottes-Tor" ins Netz geschummelt hat, ist ihm nie ernsthaft um die Ohren gehauen worden. Das geklaute Tor galt als geniale Schlitzohrigkeit eines liebenswerten Pummels, dem die Fußballwelt für seine Zauberkünste dankbar war.
Schon damals reiste Maradona gerne im Clan. Das ist noch heute so. Schwiegersohn Agüero gehört zum WM-Kader. Fernando Molina, der Freund seiner zweiten Tochter, kümmert sich um die Presse.
Über allen steht Carlos Bilardo. Der 71-Jährige, promovierter Mediziner, ist Team-Manager. 1986 gewann er mit dem Spieler Maradona den Titel.
Auf dem Trainingsplatz der Uni von Pretoria, wo die Argentinier während der WM ihr Quartier aufgeschlagen haben, pfeift der kleine Mann das Trainingsspiel ab. Weil er kein Schiedsrichter ist, klatscht er zum Schluss noch zweimal in die Hände. So, wie das Trainer tun.