Das Herz eines Boxers, das hatte Graciano Rocchigiani wie kaum ein anderer. Das Talent, um eine Weltkarriere wie Max Schmeling zu starten, bescheinigten dem Berliner mit der großen Schnauze so manche Experten.
Doch Rocchigiani verlor auf oft unglückliche Weise zu viele Kämpfe, auch außerhalb der Ringseile. Sein Unfalltod auf einer Schnellstraße in Sizilien beendete das wechselvolle Leben des Ex-Weltmeisters. Und auf tragisch-bittere Weise passte das Ende wohl zu dem 54-Jährigen, der im Berliner Dialekt den Spitznamen "Grazze" weg hatte und für alle anderen nur "Rocky" hieß - wie der unbeugsame Filmheld.
Warum und unter welchen Umständen er in dem Ort Belpasso bei Catania am Montagabend kurz vor Mitternacht auf der mehrspurigen Staatsstraße SS121 zu Fuß unterwegs war, ist von der italienischen Polizei noch nicht geklärt. Ein Smart, gesteuert von einem 29-Jährigen aus Catania, überfuhr Rocchigiani, der sofort tot war. Bei dem Fahrer sei alles ordnungsgemäß gewesen, hieß es aus Polizeikreisen.
Noch vor seinem 50. Geburtstag hatte Rocchigiani Ende 2013 eine positive Bilanz gezogen. "Ich habe alles in allem ein schönes, erfolgreiches Leben. Ich bin im Prinzip ein Sonntagskind, habe 50 Jahre auf der Überholspur gelebt. Die 22 Monate im Knast habe ich vielleicht auch verdient", sagte er damals der Deutschen Presse-Agentur.
Sein einstiger Rivale Henry Maske zeigte sich von der Todesnachricht betroffen. "Die Nachricht hat auch mich, wie sicher sehr viele kalt erwischt. Ich habe weiche Knie bekommen. Das war doch viel zu früh. Was das wirklich bedeutet, merkt man ja erst im Zuge der Zeit", sagte Maske der dpa. Rocchigiani hätte nie unter der Gürtellinie geschlagen. "Für ihn als Sportler galt das im sprichwörtlichen wie auch im tatsächlichen Sinne."
"Es tut mir so leid, dass er so jung sterben musste. Eine Tragik", sagte sein früherer Manager Wilfried Sauerland. Der Promoter hatte Rocchigiani einst so charakterisiert: "Er war der talentierteste Boxer in den letzten 30 bis 40 Jahren in Deutschland, vom Talent höher einzuschätzen als Henry Maske."
1988/89 war Rocchigiani Weltmeister im Supermittelgewicht, von 1998 bis 2000 im Halbschwergewicht. In dieser Gewichtsklasse lieferte er sich unvergessene Duelle mit Henry Maske und Dariusz Michalczewski, in denen er sich angesichts der Niederlagen immer wieder verschaukelt fühlte und dies deutlich aussprach. "Allet Beschiss, allet Schweine", polterte er nach einem Kampf gegen Michalczewski, den er schon vorher beschimpft hatte.
Michalczewski sagte der "Bild", die beiden seien anders gewesen und in gewissen Dingen doch ähnlich. "Wir standen 24 Runden im Ring, haben hart um den Sieg gekämpft. Das verbindet und wir entwickelten so Respekt füreinander." Maske beschrieb das ähnlich: "Wir haben miteinander ganz besonders intensive Momente durchlebt."
Nachdem beide lange Zeit privat nichts miteinander zu tun hatten, seien sie sich zuletzt ein Stück näher gekommen. "Besondere Erinnerungen habe ich an die Feier anlässlich meines 50. Geburtstages. Da er nur wenige Tage älter als ich ist, hatten wir beide einen Grund uns gegenseitig zu feiern, und das mit vielen gemeinsamen Freuden und Weggefährten. Auch er fühlte sich sichtlich wohl, was mich sehr freute. Wir waren auf Augenhöhe", sagte Maske.
Ex-Schwergewichtler Axel Schulz zeigte sich beeindruckt vom Boxer, Menschen und Freund. "Alle drei Seiten waren beeindruckend", sagte Schulz Focus online. "Das Schlimme ist, dass er gerade auf dem Weg der Besserung war, er war wirklich dabei, sein Leben endlich in den Griff zu kriegen." Zuletzt war Rocchigiani unter anderem als Experte für den Sender Sport1 tätig.
Der deutsche Berufsbox-Präsident Thomas Pütz nannte Rocchigiani "einen der ehrlichsten Menschen, die ich kannte". "Er war nicht einfach", charakterisierte ihn Sauerland, unter dessen Leitung "Rocky" 1988 zum ersten Mal Weltmeister wurde. Der Rechtsausleger mit der linken Klebe bestritt knapp 50 Kämpfe und gewann 41 - im Ring.
Handfesten Streit hatte er nämlich auch immer mit der Justiz. 1997 wurde er zu acht Monaten Haft auf Bewährung wegen Beleidigung eines Polizisten, gefährlicher Körperverletzung und Widerstandes gegen die Staatsgewalt verurteilt. Er hatte einen Polizisten bei einer Verkehrskontrolle leicht angefahren und als "Advokatenscheißer" beschimpft - der Ausdruck bekam danach Kultcharakter.
Sein überbordendes Temperament war aber oft nicht spaßig. Rocchigiani fuhr betrunken Auto, verlor seinen Führerschein, verprügelte Taxifahrer, kam mit Drogen in Berührung. "Ick hab' nix Schlimmet jemacht. Det passiert nun mal Otto Normalverbraucher", sagte er trotz seiner Haftstrafen in schönstem Berlinerisch. Dabei war Rocchigiani in Wirklichkeit gebürtiger Duisburger und Sohn einer Berlinerin sowie eines sardischen Eisenbiegers - eines der am liebsten verwendeten Synonyme für Rocchigiani.
Den größten juristischen Sieg erstritt der unbeugsame Faustkämpfer und nicht immer erfolgreiche Lebenskünstler gegen den Box-Weltverband WBC. 4,5 Millionen Dollar Schadenersatz gab es für die Aberkennung des Weltmeistertitels, später musste Rocchigani aber Hartz IV beantragen und hatte in einer Pension bei Berlin ein Zimmer.
"Nicht alles glückte ihm im Leben wie im Ring", stellte Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller fest. "Dennoch hatten ihn die Berliner ins Herz geschlossen, wegen seiner kantigen, manchmal rauen Art. Wir trauern um einen Boxer mit großem Herz." (dpa)