Alexander Stöckl, hochdekorierter Trainer der norwegischen Skispringer, hat in Engelberg beim letzten Weltcup vor der Vierschanzentournee das Hohelied auf Stefan Kraft gesungen. Es waren Lobpreisungen an seinen österreichischen Landsmann, Huldigungen an einen Ausnahmesportler, den er – so klang es zwischen den Zeilen durch – liebend gerne auch betreuen und trainieren würde. Stöckl hält so große Stücke auf Kraft, dass er seinen Top-Leuten Marius Lindvik, Halvor Egner Granerud und Johann Andre Forfang – derzeit alle nur im Mittelmaß springend – regelmäßig Videos zeigt. Von „Krafti“, seinen technisch feinen Absprüngen und den unvergleichbar dynamischen Flugphasen. Stöckl schwärmt: „Natürlich schaut man sich das an und genießt es.“ Krafts Darbietungen seien „einfach schön zum Zuschauen“. Nachschlag gefällig? „Wenn einer so springt, ist es einfach ein Traum.“
Dass ein Trainerkollege seinen Schützling derart in den Himmel lobt (was beim Skispringen gleich noch mal eine andere Bedeutung bekommt), ist dem österreichischen Chefcoach Andreas Widhölzl fast schon ein bisschen unangenehm. Stöckl tue sich leicht, Kraft über den Schellenkönig zu loben. „Ich kenne auch seine Schwachpunkte und muss drauf schauen, dass nicht geschlampert wird.“ Widhölzl, dem bei der Tournee 1999/2000 der Gesamtsieg gelungen war, schafft es im zweiten Anlauf dann aber doch, die Qualitäten seines Ausnahmekönners Kraft zu benennen: „Der Krafti ist begnadet, was sein Talent, seinen Fleiß und seine Einstellung angeht.“ Im Vergleich zu früher habe sich der 30-jährige Salzburger in dieser Saison in einem wesentlichen Punkt gesteigert: „Er hat jetzt einen besseren Zugang in den Wettkampf rein.“ Oftmals habe Kraft zu viel gewollt, habe „überpaced“ und sei „all in“ gegangen. „Das macht er jetzt nicht mehr. Er muss geduldig bleiben und in Stresssituationen bei sich bleiben“, sagt Widhölzl.
Stefan Kraft kennt alle Stresssituationen
Kraft selbst kennt all die Stresssituationen, die auf einen Skispringer vor der Tournee einprasseln können. Da sei oft nicht nur Vorfreude, wenn man über Weihnachten ins Sinnieren komme. Kleinste körperliche Signale, Selbstzweifel, medialer Druck – all das kennt Stefan Kraft.
In diesem Jahr lächelt er das alles weg. Er ist derzeit der Herr der Lüfte, der unumstrittene Schanzenbeherrscher. Von acht Weltcup-Springen hat der Österreicher fünf gewonnen. Favoritenbürde? „Ich fühle mich sehr wohl mit dieser Rolle. Es läuft sehr gut und macht richtig viel Spaß.“ An der Titlis-Schanze im schweizerischen Engelberg hatte Kraft kurz vor Weihnachten ein einziges Mal zu große Töne gespuckt („Es gelingt grad jeder Sprung“), erlitt tags darauf mit Rang neun prompt einen Dämpfer und zog selbst daraus noch einen positiven Schluss: „Auch wenn ein Sprung nicht gelingt, kommt ein Top-10-Ergebnis raus. Solche Voraussetzungen braucht es, um eine gute Tournee zu springen.“
Zum Kraft’schen Wohlfühl-Packerl – das hat er in all den Wettkampfjahren gelernt – gehöre neben strengem Technik- und Fitnesstraining auch sein privates Seelenwohl. Und das versteckt der 30-Jährige nicht mehr vor der Öffentlichkeit. Seine Hochzeit mit der langjährigen Freundin Marisa Probst feierte er groß und machte keinen Hehl daraus, nach vielen Jahren des Verzichts heuer einmal ausgebrochen zu sein. Sechseinhalb Wochen Auszeit haben sich Kraft und seine Frau genommen, um die Welt zu bereisen: Bali, Sydney, Hawaii, Los Angeles, Paris und dann wieder heim. „Wir haben wunderschöne Sachen gesehen. Andere Kulturen, anderes Essen. Auf Bali, wo du nur mit Pferden oder Esel rumchauffiert wirst, entschleunigt sich das Leben.“ Erstmals in seinem langen Sportlerleben habe er eine „richtig schöne Freiheit“ verspürt. Und: „Ich bin mit Freude und Energie zurückgekommen.“ Diszipliniert wie eh und je habe er aber auch bei der Reise regelmäßig und hart trainiert.
Vor neun Jahren siegte Kraft bei der Tournee
Nun musste Kraft die Taschen für Oberstdorf packen. Mit dabei: jede Menge Ehrgeiz, den Tournee-Gesamtsieg neun Jahre nach seinem eigenen Triumph 2014/2015 zu wiederholen und die lange Durststrecke für die rot-weiß-roten Adler zu beenden. Kraft hat aber auch jede Menge Demut im Gepäck. Vor seiner 13. Tournee erinnert er sich, dass er schon mehrfach als Favorit zur ersten Station ins Allgäu angereist sei, dann aber aus der Bahn geworfen wurde. Mal durch einen schlechten Sprung, mal durch körperliche Defizite. „An Speibdusel“ habe ihn mal erwischt, sagte er auf gut Österreichisch. Erst auf Nachfrage des Reporters lüftete Kraft das Geheimnis: „Ein Norovirus. Da kommt’s vorne raus, hinten raus, überall raus.“
Der zweite Virus, der Kraft lahmlegen könnte, trägt den Namen „Olympiaschanze“ und steht in Garmisch-Partenkirchen. Dort erlebte der Österreicher einen Durchfall ganz anderer Art, nämlich in den Ergebnislisten. Sechsmal in Folge hat ihn das Neujahrsspringen zuletzt abgeworfen. Die Plätze 31, 49, 13, 28, 59 (Quali-Aus) und 18 sind Krafts ganz persönliches Trauma, das es zu besiegen gilt. „Die Tournee zu gewinnen, ist eine Monsterarbeit“, weiß Kraft. „Ich bin froh und beruhigt, dass ich das schon mal geschafft hab’.“