2003 stürzte sich Daniela Iraschko-Stolz von einer Skiflugschanze. Am Kulm segelte die Österreicherin als Vorspringerin des Männer-Weltcups auf 200 Meter. Bis heute ist keine Skispringerin weiter gesprungen. Aus einem einfachen Grund: Skifliegen für Frauen gab es bislang nicht – bis jetzt, 20 Jahre später. Im norwegischen Vikersund fliegen an diesem Wochenende die aktuell 15 besten Springerinnen von der größten Skiflugschanze der Welt. Am Freitag und Samstag sind vier Trainings angesetzt, am Sonntag (10 Uhr, ARD) gehen die frischgebackene Dreifach-Weltmeisterin Katharina Althaus und Co. auf Weltrekordjagd. Den hält offiziell übrigens nicht Iraschko-Stolz, sondern die Japanerin Yuki Ito mit 154 Metern, aufgestellt in Willingen im vergangenen Jahr.
Vorfreude bei Katharina Althaus aufs Skifliegen in Vikersund
Die Oberstdorferin Althaus freut sich auf die Premiere auf der Weltrekord-Anlage, auf der Stefan Kraft 2017 auf sensationelle 253,5 Metern segelte. Ganz soweit wird es bei den Frauen nicht gehen. "Die magischen 200-Meter sind schon das Ziel. Aber die Jungs sagen immer, sie trauen mir noch mehr zu", sagte Althaus kürzlich beim WM-Empfang in ihrem Heimatort im Allgäu. Sie hat zwar noch nie auf einer Skiflugschanze trainiert, dennoch sei ihr davor nicht bange: "Ich hab' einen Plan und den zieh ich jetzt auch durch. Und ich freu mich, dass wir Frauen jetzt auch endlich fliegen dürfen."
Dabei hätte die 26-Jährige ihre Karriere nach dem Anzug-Eklat bei Olympia im vergangenen Jahr beinahe vorzeitig beendet. "Dann kam die Nachricht, dass wir Skifliegen gehen dürfen. Das hat alles geändert bei mir", sagte die Allgäuerin kürzlich im Aktuellen Sportstudio.
Skisprunglegende Toni Innauer äußert scharfe Kritik
Doch was die Springerinnen nach jahrelangem Kampf freut, löst bei anderen Kopfschütteln aus. Herbe Kritik kommt etwa aus Österreich. Toni Innauer, 64, seines Zeichens Olympiasieger, Weltmeister und unbestritten einer der größten Experten dieses Sports, spricht sich vehement gegen das Frauen-Skifliegen aus. Nachdem der internationale Skiverband Fis vergangenes Jahr beschlossen hatte, erstmals Frauen fliegen zu lassen, schrieb Innauer gar einen Offenen Brief an den Weltverband. Darin warnte er vor "großen Risiken". Der Körper einer Skispringerin sei "aufgrund des geschlechtsspezifisch geringeren Muskelanteils am Gesamtkörpergewicht weniger widerstandsfähig". "Der relevante Unterschied zu ihren männlichen Sportkollegen liegt nicht so sehr in der sportlichen Leistungsfähigkeit, sondern in den zu erwartenden Problemen bei einem typischen Skiflugsturz", schrieb Innauer.
In der Vergangenheit hat es immer wieder schwere Unfälle auf Skiflugschanzen gegeben. 2021 musste etwa der Norweger Daniel-André Tande nach einem Horror-Sturz in Planica künstlich beatmet werden und lag tagelang im Koma.
Ex-Bundestrainer: "Mit 40 Kilo ist noch nie jemand von einer Skiflugschanze gesprungen"
Die Fis hat deshalb eine Reihe an Vorsichtsmaßnahmen getroffen, um das Risiko von Stürzen und Verletzungen bei der Skiflug-Premiere der Frauen auf dem Weltrekord-Bakken zu minimieren. Lediglich die besten 15 Springerinnen der Raw Air, dem norwegischen Gegenentwurf zur Vierschanzentournee, dürfen starten. Alle Athletinnen müssen mindestens 18 Jahre alt sein. Außerdem wird bereits am Vormittag gesprungen. Dann herrsche wenig Aufwind, erklärt der ehemalige Frauen-Bundestrainer Andreas Bauer.
Der 59-jährige Oberstdorfer war einer der Befürworter und Vorantreiber der Entscheidung, hat dabei aber auch immer auf die größtmögliche Sicherheit der Athletinnen gepocht. Er vertritt Deutschland mittlerweile bei der Fis, ist Mitglied im übergeordneten Sprungkomitee und als Technischer Delegierter bei Weltcups im Einsatz. Bauer sagte unserer Redaktion: "Wir haben uns die Entscheidung nicht leicht gemacht. Es steht viel auf dem Spiel. Wenn etwas passiert, hat sich das Skifliegen für die Mädels unter Umständen schnell wieder erledigt." Die große Unbekannte sei, wie sehr leichte Springerinnen mit den hohen Geschwindigkeiten (etwa 105 km/h beim Absprung) und den extremen Kräften in der Luft zurechtkommen. "Mit 40 Kilo ist noch nie jemand von einer Skiflugschanze geflogen."
Ganz bewusst habe man sich deshalb für die Anlage in Vikersund entschieden, da die Flughöhe dort maximal sechs bis sieben Meter betrage. Auf der Oberstdorfer Heini-Klopfer-Schanze sei das ähnlich – auch dort sei es in Zukunft denkbar, Frauen Skifliegen zu lassen. In Planica oder am Kulm hingegen sei die Flugbahn teils doppelt so hoch. Laut Bauer ein zu großes Risiko. Man habe auch Innauers Einwände ernst genommen: "Es war eine Entscheidung zwischen Sicherheit und Gleichberechtigung. Ein gewisses Restrisiko bleibt. Der Hang ist einfach 100 Meter länger. Bei einem Sturz überschlägt man sich nicht drei, vier Mal, sondern sieben oder acht Mal", sagte Bauer. Die Auswirkungen auf den Körper einer Athletin? Ungewiss.
Andreas Bauer rechnet mit Flügen bis auf 230 Meter
Da in Vikersund nur die Top 15 der Norwegen-Tour an den Start gehen dürfen, zählt der Wettkampf nicht zur Weltcup-Gesamtwertung. Der Ehrgeiz von Althaus, derzeit Zweite der Raw Air, ist dennoch groß. Für Bauer, der die Oberstdorferin jahrelang trainiert hat, ist sie einer der großen Favoritinnen auf dem "Monsterbakken": "Katha kann mit ihrem Sprungstil weit fliegen, da bin ich mir sicher. Sie ist mir schon vor 10 Jahren in den Ohren gelegen, dass sie unbedingt Skifliegen will." Nun geht ihr Traum in Erfüllung.
Und welche Weiten sind drin? Der einstige deutsche Rekordhalter rechnet mit Flügen bis 230 Meter. Zum Vergleich: Bauers Landesrekord, aufgestellt im Jahr 1986, lag bei 182 Metern.