Es ist eines der spektakulärsten Comebacks der Sportgeschichte: Lindsey Vonn, die 2019 nach schweren Verletzungen ihren Rücktritt vom alpinen Skirennsport verkündet hatte, will wieder auf die Piste gehen. Das bestätigte die Olympiasiegerin und mehrfache Weltmeisterin nun. Schon Mitte Dezember könnte die US-Amerikanerin bei der Abfahrt in Beaver Creek als Vorläuferin die Piste hinabfahren - und das mit 40 Jahren und einem künstlichen Kniegelenk. Vor allem letztgenannter Umstand sorgt bei einem deutschen Spitzenmediziner für Sorgenfalten. „Ich finde es sehr mutig, was Frau Vonn vorhat“, sagt Kniespezialist Dr. Ulrich Boenisch mit einer Mischung aus Anerkennung und Sorge.
Denn die Verletzungsgefahr ist aus seiner Sicht deutlich größer: „Wenn sie stürzen sollte, habe ich enorme Angst, dass es zu einem Bruch kommt.“ Boenisch, der die Augsburger Hessingpark-Clinic GmbH leitet, ist einer der renommiertesten Knie-Experten Europas. Zu seinen Kunden gehören Spitzensportler wie Toni Kroos. Aber auch reguläre Patienten kommen in seine Praxis. Boenisch bestätigt zwar, dass es zuletzt erhebliche Fortschritte bei Knieprothesen gegeben hat: „In den vergangenen Jahren ist man im Umgang mit künstlichen Gelenken deutlich liberaler geworden.“ Freizeitsportler würden etwa ermutigt, auch nach der OP nicht auf ihre sportlichen Routinen zu verzichten. „Die Zementiertechniken und das Einwachsverhalten sind immer besser geworden.“ Bedeutet: Kniegelenke sind immer stabiler, werden zudem auch besser vom Körper angenommen.
Knie-Spezialist Boenisch über Lindsey Vonn: „Der Knochen ist weicher als die Prothese“
Das kann offenbar auch Vonn bestätigen, die sich im vergangenen Februar nach mehrfachen Kreuzbandrissen und jahrelangen Schmerzen dafür entschied, sich im rechten Knie eine Prothese einsetzen zu lassen. Ihr Leben sei seither ein anderes, sagte die Ausnahmesportlerin der New York Times. Sogar ihr geliebtes Skifahren sei wieder möglich gewesen: „Ich hatte so ein breites Grinsen, dass es hinten beim Helm wieder rauskam.“ Diese neue Sicherheit habe nun dazu geführt, dass sie in den Speed-Disziplinen wieder angreifen will. „Ich wäre nicht wieder im US-Skiteam, wenn ich keine Absichten hätte.“ Am Wochenende werde sie erstmals mit dem US-Team an Trainings in Copper Mountain (Colorado) teilnehmen.
Die Kräfte, die bei einer alpinen Abfahrt auf ein Knie wirken, haben aber nichts mit einem Freizeitsportverhalten zu tun. Boenisch weiß, welche Anforderungen der Spitzensport an ein künstliches Kniegelenk stellt. Und die haben es in sich: „Lindsey Vonn wird in Grenzsituationen kommen, auf ihren Körper werden extreme Geschwindigkeiten einwirken. Zudem ist das Knie nicht durch ein Kreuzband stabilisiert, sodass die Mechanik und die Muskeln das übernehmen müssen. Diesbezüglich habe ich keine Bedenken, weil Frau Vonn in ihrer Karriere immer topfit war und das sicher auch diesmal so sein wird.“ Sollte es aber zum Sturz kommen, könnte es schneller als bei anderen Athleten brenzlig werden: „Das Kniegelenk als solches ist nicht gefährdet, aber der Knochenbereich ober- und unterhalb davon. Der Knochen ist weicher als die Prothese, die Gefahr von Spiralbrüchen ist deswegen groß.“
Als Spiralbrüche werden Frakturen bezeichnet, die durch eine drehende Kraft auf den Knochen entstehen. Diese verheilen in aller Regel weniger gut, weil die Bruchflächen weniger stabil aufeinander passen als bei einem einfachen Quer- oder Längsbruch. Zudem besteht auch die Gefahr von Begleitverletzungen. Anders formuliert: Wenn Vonn stürzt, ist größte Sorge geboten. Zumal für sie gilt, was auch für andere Abfahrtssportler gilt, die sich mit mehr als 100 Kilometer pro Stunde einen Abhang hinunterstürzen: „Sie steht während ihrer Abfahrt unter enormer Adrenalinzufuhr. Das führt dazu, dass Schutzmechanismen beiseitegeschoben werden.“ Zurückzuziehen, etwas weniger Risiko zu gehen - dieses Verhalten passt ohnehin nicht in die Mechanismen des Skizirkus, bei dem Sekundenbruchteile über den Sieg entscheiden können. Insofern muss auch die Losung für Vonn lauten: ganz oder gar nicht. Freizeitsportler haben die Möglichkeit, es etwas langsamer anzugehen, wenn sich das Knie meldet - Vonn nicht.
So sehr Boenisch als Mediziner um die Gesundheit der Spitzensportlerin mitfühlt - so sehr würde ihn ein erfolgreiches Comeback der Ski-Legende freuen: „Für den Ski-Sport ist es nicht schlecht, wenn er auf diese Weise wieder zu mehr Popularität kommt. Er hat bei weitem nicht die Aufmerksamkeit, die er verdient hätte.“ Vonn ist nach den zurückgekehrten Ski-Stars wie Marcel Hirscher und Lucas Pinheiro Braathen die dritte Größe des Skisports, die sich wieder die Piste hinunterstürzt. Aber kein Comeback ist jetzt schon mit so viel Trommelwirbel begleitet wie das von Vonn.
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