Manchmal sind es die kleinen Dinge, die für Freude sorgen. Mikaela Shiffrin wird selbst nicht geglaubt haben, dass sie sich einmal über eine schnöde Zieldurchfahrt freuen würde. Die US-Amerikanerin ist eine der besten Skifahrerinnen der Welt. Sie hat zwei olympische Goldmedaillen, sechs Weltmeistertitel und 73 Weltcup-Rennen gewonnen, an ihren Fähigkeiten besteht kein Zweifel.
In den Tagen von Peking aber hat sich bei der 26-Jährigen das Gefühl eingeschlichen, dass sie womöglich das Skifahren verlernt habe. Im Slalom, ihrer stärksten Disziplin, war sie früh ausgeschieden, im Riesenslalom ebenfalls. Erlebnisse, die sie bis in den Schlaf verfolgen. Am Freitag nach ihrem neunten Platz im Super G erzählte sie von einem Traum, der immer wiederkehre. „Ich bin aufgewacht, eingeschlafen und habe dasselbe noch mal geträumt“, sagte die 26-Jährige, „ich habe geträumt, dass ich das fünfte Tor verpasse – Überraschung.“ So wie es ihr eben tatsächlich passiert war. Im Super G kam sie ins Ziel, ohne Fehler, unfallfrei. „Es ist eine große Erleichterung, das Rennen beendet zu haben“, sagte Shiffrin. Worte, die zu ihr passen wie der Friedensnobelpreis zu Wladimir Putin. Manchmal aber geschehen eben wunderliche Dinge.
Mit der Medaillenvergabe hatte Shiffrin nichts zu tun
Dass sie mit der Medaillenvergabe nichts zu tun haben würde, sei ihr klar gewesen. Dafür habe sie in dieser Saison zu wenig Super G trainiert und zu wenige Super-G-Rennen bestritten. „Bei dieser Konkurrenz habe ich da keine Chance“, sagte sie. So war es auch. Gold holte die Schweizerin Lara Gut-Behrami vor der Österreicherin Mirjam Puchner und der Schweizerin Michelle Gisin. Kira Weidle kam als 15. ins Ziel. Die Deutsche sah den Super G eher als erste Eingewöhnung für die Abfahrt am Dienstag. „Ich wollte ein Gefühl für den Schnee und die Strecke bekommen“, sagte Weidle.
Und Shiffrin? Die wollte auch wieder ein Gefühl bekommen. Und zwar ein besseres als zuletzt. Sie wollte sich wieder wohlfühlen, Spaß an ihrem Beruf haben. Die vergangenen Tage seien heftig gewesen. Die US-Amerikanerin stand im Auslauf der Piste, als sie von ihrer schweren Zeit sprach. Links und rechts heben sich gewaltige Steinmassive in die Höhe, zwischendurch schiebt sich das weiße Band der Piste. Weidle fühlte sich ein bisschen an eine Mondlandschaft erinnert. Shiffrin dürfte sich auch nicht wirklich in der Realität vorgekommen sein. Zweimal frühzeitig ausgeschieden, eine der Enttäuschungen der Olympischen Spiele, damit hatte die US-Amerikanerin nicht gerechnet.
Es zählte nur das Befinden des Superstars
Als sie sprach, versammelten sich mit einigen Metern Abstand Journalistinnen und Journalisten aus aller Welt vor ihr. Nicht Gold zählte an diesem Tag, sondern das Befinden des Superstars.
Die vergangenen Tage seien enttäuschend gewesen, sehr emotional. Sie zählte all die Schlagzeilen auf, die sie besonders getroffen hatten: „Die Versagerin Shiffrin“ oder „Shiffrin enttäuscht die ganze Welt“. Dabei hatte sie doch nur in zwei Skirennen die Erwartungen nicht erfüllt. Die Öffentlichkeit aber kann gnadenlos sein.
Unterstützung hatte sie reichlich bekommen. Von ihrem Lebensgefährten Aleksander Aamodt Kilde über die sozialen Medien, aber auch aus der gesamten Skifahrer-Szene. Das habe sie zwar gefreut, änderte aber freilich nichts an ihrer Enttäuschung. Natürlich habe sie schon Olympia-Medaillen, natürlich sei ihre Karriere bisher sehr erfolgreich gewesen. „Das aber nimmt mir nicht die Enttäuschung über die ersten Rennen“, sagte sie.
Es sei nicht einfach gewesen, alles wieder auf Anfang zu setzen und mit dem Super G die Olympischen Spiele neu zu beginnen. Immerhin habe sie sich vor dem Start ruhiger und ausgeglichener gefühlt als in den vergangenen Tagen. Ein Fortschritt. Da möchte sie weitermachen, immerhin warten noch Kombination und Abfahrt.
Shiffrin hat ihre Selbstverständlichkeit verloren
Sie war als große Goldfavoritin nach China gereist. Zwei Goldmedaillen schienen ihr sicher, vielleicht sogar mehr. Kaum eine andere Athletin bringt Gefühl, Kraft, Technik und mentale Stärke so effektiv zusammen. Mikaela Shiffrin aber hat ihre Selbstverständlichkeit verloren. Sie plagen Zweifel. Das hilft selten, schon gar nicht auf der Piste, wenn es um hohe Geschwindigkeiten geht. Da braucht es Mut und Vertrauen. Shiffrin scheint beides verloren zu haben, irgendwo auf dem Weg nach China. Auf der Piste war sie nicht auf der Kampflinie unterwegs, ihr rutschte der Außenski mehrfach weg. Unten im Ziel schaute sie zunächst leicht ungläubig auf die riesige Leinwand, auf der Zeitlupen ihrer eigenen Fahrt liefen. Es schien fast so, als erkenne Shiffrin sich selbst nicht wieder. Sie winkte kurz in die Kamera, ehe sie den Zielraum verließ.
Immerhin hatte sie das Rennen beendet. Dass das mal eine gute Nachricht rund um Mikaela Shiffrin sein würde, hätte kaum einer je für möglich gehalten.