Rolf Gölz hatte keine Ahnung, dass er drauf und dran war, Sportgeschichte zu schreiben. 22. Juli 1988: Der Radprofi aus Oberschwaben rast zusammen mit dem Dänen Johnny Weltz mit großem Vorsprung vor dem Feld in die letzte Steigung des Tages. Es geht auf den Puy de Dôme, einen der spektakulären Hausberge der Tour. Von der Stadtmitte von Clermont Ferrand bis auf das Gipfelplateau des erloschenen Vulkans im Zentralmassiv sind es knappe 15 Kilometer und 1000 Höhenmeter. „Ich war super in Form und dachte, den Weltz packe ich am Berg“, erinnert sich Gölz. „Aber als ich dann attackierte, kam ich nicht weg, und plötzlich griff er an und ich konnte nicht mit.“ Künstlerpech, Gölz wurde Zweiter.
Der Fehler lag wohl daran, dass der 25-Jährige auf der Flucht zuvor zu oft geführt hatte. „Unser Sportlicher Leiter Jan Raas hat mich immer wieder gewarnt, nicht so viel in den Wind zu gehen, aber ich habe das leider nicht ernst genommen“, sagt Gölz heute. Damals trug der Oberschwabe das Trikot des niederländischen Teams Superconfex und wusste nicht, dass es die 13. und letzte Bergankunft auf dem Puy de Dôme sein würde.
Enge Straße trifft auf Tourwahnsinn
Die Straße sei viel zu eng, die Szenerie für das immer größer werdende Rennen ein nicht zu beherrschender Wahnsinn. Die damaligen Tourchefs befanden das Spektakel als zu gefährlich für Rennfahrer, Zuschauer und Begleiter und strichen den Vulkankegel aus dem Programm. Eine Rückkehr sei ausgeschlossen, hieß es damals. Jetzt ist nach 35 Jahren der Wahnsinn doch zurück im Unesco-Weltnaturerbe. Zu präsent sind offenbar immer noch die alten Heldengeschichten.
Wie zum Beispiel die vom 21. Juli 1964: Auf dem Weg nach Paris ging es zum letzten Mal in die Berge. Die Etappe von Brive-la-Gaillard endet nach 237,5 Kilometern auf dem Puy de Dôme. Der Franzose Jacques Anquetil lag nur 56 Sekunden vor seinem Landsmann und größten Konkurrenten Raymond Poulidor. „Poupou“ hatte noch Hoffnung auf den ersehnten Gesamtsieg. Dem kühlen Analysten Anquetil ging es nach den Pyrenäen nicht mehr wirklich gut, aber er trug trotzdem das Gelbe Trikot. Etwa eine halbe Million Menschen säumten den finalen Anstieg, viele sympathisierten mit Poulidor, und die letzten sechs steilen Kilometer wurden brutal.
Ein legendärer Kampf Seite an Seite
Die beiden kämpften Seite an Seite, hatten große Mühe sich einen Weg durch die tobende Menge zu bahnen. Anquetil sagte später, dass er kurz vor dem Zusammenbruch gestanden habe, aber er behielt die Kraft zum Pokerface. Gelegentlich berührten sie sich sogar, eines dieser Bilder ist bis heute millionenfach veröffentlicht. Anquetil gelang es, durch sein „Seh her, ich bin neben dir“ Poupou die Moral zu ziehen. Einen Kilometer vor dem Ziel konnte er dann aber doch nicht mehr und musste reißen lassen. Poulidor zog weg, schaute sich ungläubig um und gab dann noch einmal alles. 42 Sekunden kam er schließlich vor dem Mann in Gelb als Dritter ins Ziel.
Anquetil sah aus wie das Leiden Christi und hatte als Etappenfünfter am Ende nur noch 14 Sekunden Vorsprung vor seinem populären Rivalen. „Wenn ich das Gelbe Trikot am Puy de Dôme verloren hätte, wäre ich nicht weitergefahren“, sagte er hinterher. Aber er rettete es auch über die letzten Tage bis Paris. Von dem Duell der beiden ungleichen Radhelden reden sie heute noch in Frankreich.
Die Tourchefs sind immer auf der Suche nach neuem Spektakel
Ereignisse wie dieses haben die heutigen Chefs der Tour auf der ständigen Suche nach neuem Spektakel an die alte Stätte zurückgebracht – obwohl jeglicher Individualverkehr dort schon lange grundsätzlich verboten ist. Auch Radfahrer dürfen die letzten fünf Kilometer bis zum Gipfel nicht unter die Pedale nehmen. 2012 wurde zudem auf dem engen Asphaltband eine Zahnradbahn eröffnet, mit der man in 15 Minuten zum Gipfel kommt. Die Gleise der „Panoramique des Dômes“ verengen die Straße noch weiter. „Es war nicht nur unser Wunsch, sondern auch der politische Wille der regionalen Politiker, die Tour wieder hier zu empfangen“, erklärt Christian Prudhomme, der Chef der Tour. Um die Show überhaupt durchführen zu können, werden die letzten konstant 11,5 Prozent steilen vier Kilometer für Zuschauer gesperrt. Sollte es hier zum Showdown der großen Stars kommen, wird es ein einsamer Kampf an einem mystischen Ort.
Wenn die Tour am 9. Juli am Vulkan zurück ist, wird auch der mittlerweile 60-jährige Ex-Profi Rolf Gölz irgendwo in der Nähe sein Wohnmobil parken und mit seiner Frau auf dem Rennrad an die Stecke kommen. „Die Tour fasziniert mich immer noch“, sagt er, „und der Puy de Dôme besonders, auch wenn ich dieses Mal nicht hochfahren darf.“ Ja, er sagte darf, nicht muss.