Herr Sostmeier, Sie kommentieren hier zum achten Mal die Reitsport-Wettbewerbe bei den Olympischen Spielen. Wie finden Sie es in Paris?
CARSTEN SOSTMEIER: Für Pferde und Reiter ist das hier einfach einmalig. Und vom Publikum her so, wie ich es noch nie erlebt habe. Die Zuschauer sind so unparteiisch, so emotional. Sie freuen sich im Sinne des Pferdes und des Sports und gehen unheimlich mit. Natürlich besonders deutlich für die Equipe tricolore, aber in einem sehr angenehmen, unheimlich ausgewogenen Verhältnis. Auch den Geländetag in der Vielseitigkeit habe ich von der Stimmung her so noch nie miterlebt.
Die Geländestrecke, auf der der Deutsche Michael Jung zur Goldmedaille galoppiert ist, ging durch den Schlosspark von Versailles. Wie beurteilen Sie diese Kulisse im Rückblick?
SOSTMEIER: Die Geländestrecke war nicht überkandidelt, sie hatte eine dezente Eleganz. Ich fand den Parcours brillant, und wir haben kein unansehnliches Bild mit nach Hause nehmen müssen. Es war gewissermaßen ein hippologisches Ausflugsziel mit fünf Sternen für das Publikum.
Bisher gab es hier dreimal Gold und einmal Silber für das deutsche Reitteam. Wie wichtig ist es aus Ihrer Sicht, dass der Reitsport weiterhin eine olympische Disziplin bleibt?
SOSTMEIER: Ich glaube, es ist unwahrscheinlich wichtig. Einmal für die Bedeutung seiner Existenz, weil Olympische Spiele ein Ritterschlag für jede Sportart sind. Ich merke es auch an der Resonanz der Menschen, dass meine Kommentare Leute erreichen, die mit dieser Sportart sonst nichts zu tun haben. Das ist dieser Gedanke des Zusammenkommens und Zusammenführens der traditionellen Sportarten. Reiten ist ja schon seit 1900 olympischer Bestandteil.
Leider kamen gerade in den vergangenen Monaten immer wieder Fälle von Tierquälerei bei prominenten Reiterinnen und Reitern auf. Wie bewerten Sie das?
SOSTMEIER : Mit Charlotte Dujardin hatten wir zuletzt den Fall einer sehr erfolgreichen und gut reitenden Dressurreiterin, die ihre Erfolge nicht mit den Bildern hinbekommen hat, wie wir sie in den Videos sehen. Das erschreckt, schockiert und macht sprachlos. Man würde ja auch einem Menschen nichts beibringen, indem man ihn verprügelt. Deshalb ist es wichtig, dass wir bei aller Begeisterung für den Reitsport im Rampenlicht, immer auch in die Ecken schauen, wo das falsche Licht angeht. Ich hoffe, dass das mehr und mehr gelingt.
Wie sind Sie selbst zum Pferdesport-Reporter geworden?
SOSTMEIER: Ich bin in die Kommentierung reingerutscht, weil ich das Glück hatte, als junger Mensch reiten lernen zu dürfen. Ich musste immer junge Pferde reiten, weil der Papa kein Geld hatte, ein teures Pferd zu kaufen. Ein Pferd, das ich dreijährig bekam, habe ich bis zum Sieg im Springen der Klasse S geritten. Dann waren meine Bandscheiben mit 21 Jahren kaputt und ich musste aufhören. Ich habe mental gelitten, aber so bitter das für mich war, so schön war, dass die andere Tür aufging und ich ans Mikrofon kam. Angefangen mit Stadionansagen bei Turnieren bin ich seit mehr als 30 Jahren fürs Fernsehen im Einsatz.
Mit Ihren originellen Wortschöpfungen, Ihrer Begeisterung und Fachkompetenz reißen Sie die Menschen vor den Bildschirmen mit. Wie bereiten Sie sich auf die Kommentierung vor?
SOSTEMEIER: Ich sehe das weniger als Beruf, sondern als Erfüllung, was ich mache. Das ist mein Leben, das begleitet mich das ganze Jahr hindurch. Ich habe mir zu Hause selbst ein Archiv mit Reiterinnen und Reitern aus den drei olympischen Disziplinen angelegt. Bei 2000 habe ich aufgehört zu zählen. Das mache ich mit Leidenschaft. Die alleinige Vorbereitung auf Olympia war dann so etwa eine knappe Woche. Hauptsächlich ist die Vorbereitung dann nur noch ein Abfallprodukt der Gewissenhaftigkeit des Vorlaufs.
Aber Sie legen sich vorher keine Ihrer besonderen Formulierungen zurecht, oder?
SOSTMEIER: Nein, ich schreibe nichts auf, überhaupt nichts. Ich habe meine Starterliste, meine Archivzettel und die Parcours-Skizze, um zu wissen, was zu erwarten ist. Aber ich kann ja nicht vorher aufschreiben, was passiert. Wenn ich morgens aufstehe, weiß ich auch noch nicht, was ich den Tag über erzählen werde. Genauso ist es hier auch. Ich freue mich, wenn der Wettbewerb losgeht. Ich lasse mich fallen, ich tauche ein und dann bin ich unter Wasser. Und wenn ich auftauche, lese ich, was ich während meiner Schwimmphase so alles von mir gegeben habe.
Dann haben Sie sicher gelesen, dass Ihre emotionale Kommentierung von Michael Jungs Goldritt für großes Aufsehen gesorgt hat. Haben Sie damit gerechnet?
SOSTMEIER: Am Ende bist du als Reporter nur so gut, wie es der Sport es ist. Der Moment trägt dich, wie bei Michael Jung und Chipmunk. Da freue ich mich dann auch. Und in dem Moment lasse ich dann auch mal in die Pferdebox meiner eigenen Seele schauen. Dann breche ich auch mal über den Futterrand hinaus voller Freude. Manche halten mich dann vielleicht für verrückt und meinen, der sollte mal zum Arzt. Aber ich bin halt emotional verdammt ehrlich - und ein bisschen nahe am Wasser gebaut.
Diese überbordende Emotion ist aber auch manchmal schon in die falsche Richtung gelaufen.
SOSTMEIER: Ich habe mich durchaus schon mal verbal im Parcours verritten und muss sagen, das beschämt mich bis heute, das werde ich mein Leben lang nicht vergessen und das werde ich mir nie verzeihen. Wie ich die Vielseitigkeitsreiterin Julia Krajewski verbal verprügelt habe, da schäme ich mich immer noch dafür. Es freut mich so, dass sie dann in Tokio Olympiasiegerin wurde und ich das kommentieren durfte. Aber ich musste das aufarbeiten, das hat mich aufgewühlt. Wenn man nur darüber hinweggeht und sich das nicht eingesteht, wird man sich nicht verbessern.
Welche Reaktionen erleben Sie derzeit selbst auf Ihre einzigartige Gold-Kommentierung in Paris?
SOSTMEIER: Es gab immer schon Momente, in denen die Zuschauer sehr aufmerksam auf mich wurden. Hier in Paris bekomme ich das nicht so mit, aber es scheint eine gute Frequenz zu geben. Aber nicht ich bin derjenige, der den Moment macht. Das war eher ein Geschenk für mich. Michael Jung schrieb mir: „Danke für deinen Kommentar.“ Ihm bedeutete das etwas, und das ging mir nahe. Denn ich möchte für die Pferde und den Sport da sein – und nicht für den Sostmeier.
Carsten Sostmeier ist 1960 in Bad-Soden Salmünster (Hessen) geboren. Zunächst arbeitete der gelernte Bankkaufmann als freier Sportkommentator bei Pferdesportveranstaltungen, seit 1991 arbeitet er für die ARD, bedient aber auch Livestreams anderer TV-Sender. In Paris wird er am Dienstag den letzten Reitsportwettbewerb, das Einzel-Finale im Springreiten (ab 10 Uhr) kommentieren.
Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden