Frau Cavelius, werden Sie sich persönlich Olympia-Sendungen anschauen?
Alexandra Cavelius: Nein, bestimmt nicht! Xi Jinping nutzt die Olympischen Spiele als Propagandashow, um seine Macht zu legitimieren und weltweit auszubauen. Wer aber der Kommunistischen Partei Chinas – kurz KPCh – im Weg steht, wird kaltblütig aus dem Weg geräumt. Das zeigt sich unter anderen am Beispiel der Unterdrückung der Uiguren in der Provinz Xinjiang, in Tibet, der Inneren Mongolei, der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung in Hongkong oder der Gewaltandrohung gegenüber Taiwan. Nicht zu vergessen die Verfolgung von Falun Gong, Christen, Menschenrechtsanwälten oder zuletzt der Tennisspielerin Peng Shuai, die einen KP-Funktionär sexueller Misshandlungen beschuldigte … Das Einzige, was mich bei den Spielen interessieren würde, wäre, ob es Sportler gibt, die den Mut haben, die Menschenrechtslage in China anzuprangern.
Allerdings hat die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch Sportler gewarnt, die Menschenrechtslage zu kritisieren, so lange sie sich in China aufhalten.
Cavelius: Ja, Peking droht ihnen, obwohl offiziell Meinungsfreiheit garantiert ist. Leider müssen die Sportler die unkluge Entscheidung des IOC ausbaden. Wer hat Spaß an Spielen in so einer Diktatur? Ein Expertenratschlag an die Sportler lautet, sich „Wegwerfhandys“ zu besorgen, wegen Spionagegefahr. Dazu kommen ungeklärte Fragen in Pandemiezeiten, die einen fairen Wettbewerb gefährden: Wer gilt ab wann als „ansteckend“? Manche Sportler sprechen von Zuständen wie im „offenen Vollzug“.
Sie beschäftigen sich seit Jahren mit der Lage ethnischer Minderheiten in China. In Ihrem aktuellen Buch „China Protokolle“, das Sie zusammen mit der Co-Autorin Sayragul Sauytbay geschrieben haben, wird das Schicksal der Uiguren, Kasachen und anderen Ethnien beleuchtet. Die Interviews und Protokolle mehrerer Zeugen und Zeuginnen, die in der Provinz Xinjiang in Lagern gefangen gehalten wurden, gehen unter die Haut. Was hat Sie am meisten erschüttert?
Cavelius: Das Buch ist voll von tief verstörenden Berichten, die an einen Horrorfilm erinnern. Die USA und sieben weitere Länder haben das Vorgehen Pekings in der Nordwestprovinz Xinjiang als Genozid, also Völkermord, verurteilt. Was ich von Zeugen gehört und an Belegen gesehen habe, spricht für diese Auslegung. Denn es handelt sich nicht nur wie bei einem „kulturellen Genozid“ um das Auslöschen der kulturellen Identität, sondern auch um systematisches Morden.
Sie schreiben auch, dass das Regime mit der Unterdrückung der Uiguren sehr viel Geld verdient. Wie geschieht das?
Cavelius: Es geht unter anderen um Enteignungen, medizinische Versuche, Zwangsarbeit, Folter oder Organhandel, der in China übrigens ein blühenderes Geschäft denn je ist. Ein einst wohlhabendes, älteres Ehepaar schilderte mir seine Inhaftierung. Die Ehefrau war Zeugin von Gruppenvergewaltigungen in einem Lager in Urumqui, während ihr Mann in einem riesigen Lager interniert war, versteckt in den Bergen. 100.000 Gefangene seien dort untergebracht, sagten die Wärter. In nur vier Monaten hat der Ehemann erlebt, wie viele unschuldige Männer zu Tode geprügelt, zu Tode gequält oder auch zu Tode gespritzt wurden.
Die Welt erfuhr im Herbst 2019 von der Existenz der Umerziehungslager durch die westlichen Journalisten zugespielten „China Cables“ – es handelt sich um staatliche Geheimdokumente. 2021 berichtete Amnesty International von einer „Schreckensherrschaft“ über hunderttausende Uiguren und Muslime anderer Ethnien. Wie reagiert Peking auf solche Veröffentlichungen?
Cavelius: Obwohl mittlerweile mehrere amtliche Dokumente der eigenen Behörden die Regierung eindeutig der Lüge überführen, beschwert sie sich weiter über „Lügen aus dem Westen“. Lange Zeit hatte Peking die Existenz der Lager abgestritten. Erst als die Beweislage erdrückend war, hat die Führung sie beschönigend „Berufsbildungslager“ genannt. Behauptet wird, dass sich alle Muslime „freiwillig wie in Internaten“ dort aufhalten würden, um islamistischer Radikalisierung vorzubeugen.
Wie ist die Situation in den Lagern nach Ihren Informationen?
Cavelius: Mütter, Schulkinder, Greisinnen oder Professoren werden wie Vieh in mehrfach verriegelten Zellen zusammengepfercht und gefoltert. Wer würde sich freiwillig dorthin begeben? Umgeben von Mauern mit Stacheldraht und schwer bewaffneten Polizisten. Das Regime beschwichtigt, dass alle Schüler längst ihren „Abschluss gemacht“ und eine „glückliche Zukunft vor sich“ hätten. Satellitenaufnahmen belegen jedoch das genaue Gegenteil, nämlich den weiteren Ausbau der Lager. Uiguren und andere Ethnien müssen ihre jahrtausendealte Kultur, Sprache und Religion leugnen. Sie sollen zu willfährigen chinesischen Parteidienern werden. Die einzig erlaubte Religion ist die Ideologie der Partei. Der einzige wahre Gott Xi Jinping. So lernen es die Gefangenen in den Lagern.
Der Westen reagierte mit Sanktionen gegen einzelne Personen in China, die direkt an den Maßnahmen gegen die muslimischen Ethnien beteiligt sind. Peking antwortet mit Gegensanktionen. Ist das der richtige Weg?
Cavelius: „Der einzige Weg, einen Tyrannen zu stoppen, ist, ihm die Stirn zu bieten“, sagte ein dänischer EU-Abgeordneter zu Pekings Strafpolitik. Aus meiner Sicht ist der Westen mit seinen Sanktionen gegenüber Peking viel zu milde. Die Welt sollte Patentklau, Vertragsbruch oder Industriespionage nicht einfach hinnehmen. Peking droht oder bestraft, sobald Kritik an der chinesischen Politik geäußert wird. Wer beispielsweise wie Australien eine unabhängige Untersuchungskommission zum Ursprung des Coronavirus in Wuhan fordert, wird mit Boykotten überzogen. Deutschland kann sich eine viel selbstbewusstere Haltung erlauben, denn China ist auch von uns abhängig. Langfristig plant das Reich der Mitte offensichtlich, sich vom Westen abzukoppeln. Wirtschaftsexperten haben allerdings berechnet, dass das für weit weniger verlustreich wäre, als manche fürchten.
Es gibt auch Politiker, die sagen, dass man Uiguren oder den ebenfalls unterdrückten Tibetern eher durch stille Diplomatie als durch „moralisierendes Getöse“ hilft. Ist da nicht etwas dran?
Cavelius: Stille Diplomatie bleibt ein bedeutsamer Bestandteil des Dialogs, aber wir müssen uns klarmachen, dass in Xinjiang die größten Internierungen seit dem Zweiten Weltkrieg stattfinden. Menschenrechtsorganisationen sprechen von einer bis drei Million Gefangenen. Einfach nur stillhalten hilft angesichts dieser schwersten Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht.
Deutsche Unternehmen wie VW, Siemens oder BMW produzieren in Xinjiang. Sollten sie sich zurückziehen oder würde dieser Schritt volkswirtschaftliche Interessen Deutschlands gefährden, ohne dass den Uiguren geholfen wäre?
Cavelius: Die westlichen Unternehmen in Xinjiang arbeiten mit den staatlichen Behörden zusammen, die für die massenhaften Inhaftierungen der einheimischen Uiguren oder Kasachen verantwortlich sind. Überwachungskameras von Siemens findet man beispielsweise auch in den Lagern. In Xinjiang kann man keine Geschäfte betreiben, ohne sich gleichzeitig zu Komplizen dieser Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu machen. Wir müssen in Zukunft neue Lösungen im Welthandel suchen. Eine Option wäre es zum Beispiel, intensiver mit aufstrebenden Wirtschaftsmächten wie Indien zusammenzuarbeiten oder das bereits geplante Gegenkonzept einer eigenen neuen Seidenstraße zu realisieren, mit Arbeitsschutz- und Umweltstandards. Eines ist klar: China ist nicht der Retter unserer Wirtschaft, sondern der Totengräber unseres Rechtsstaats.
Wie sollte der Westen aus Ihrer Sicht auf die Unterdrückung der Minderheiten in China reagieren?
Cavelius: Wir müssen das Unrecht klar benennen und sehr viel entschiedener unsere eigenen Werte vertreten. Eine gute Nachricht ist, dass Brüssel jüngst beschlossen hat, in Zukunft gemeinsam eigene Wirtschaftssanktionen zu verhängen, wenn autoritäre Mächte einzelne EU-Länder attackieren. Eine EU, die sich nicht von Peking spalten lässt und zusammenhält, hat die nötige Kraft, der weltweit zweitgrößten Volkswirtschaft die Stirn zu bieten.
China baut offensichtlich die Überwachung der eigenen Bevölkerung weiter aus. Staaten, die sich Pekings Interessen widersetzen, werden drangsaliert. Was plant der unumschränkte Herrscher Xi Jinping?
Cavelius: Xi Jinping hält das eigene nationalistische System gegenüber unserer Demokratie für überlegen. Seine Mittel sind Zensur, Gleichschaltung und brutale Unterdrückung. Sein Ziel ist es, die USA vom Thron zu stoßen und den weltweit größten Überwachungsstaat in andere Länder zu exportieren. Schon die Kleinen im Kindergarten werden mit ausländischen Feindbildern manipuliert. Auf der Liste der Staatsfeinde steht Deutschland unter den ersten vier Plätzen. Umso abstruser ist, dass das Motto der Olympischen Spiele 2022 lautet: „Gemeinsam für eine gemeinsame Zukunft!“
Gab es gegen Sie oder Ihre Co-Autorin Sayragul Sauytbay, die ja ebenfalls in eines dieser Lager gezwungen wurde und der schließlich die Flucht aus China gelang, Einschüchterungsversuche?
Cavelius: Sayragul Sauytbay hat in London eine Aussage vor dem „Uiguren-Tribunal“ gemacht, einem unabhängigen Gremium zur Untersuchung der Verbrechen an ihrer Volksgruppe. Im Hotel erhielt sie einen Drohanruf: „Wir werden dich auf deiner Rückreise verschleppen nach China!“ Die Zeugen, denen aus Xinjiang die Flucht ins Ausland gelungen ist, leiden alle unter dem langen Arm Pekings und ständigem Psychoterror. Das Regime behandelt deren Verwandte in Xinjiang wie Geiseln. Die Geschäftsfrau Zumret Dawut, die Lagerhaft und Zwangssterilisation durchlitten hat, erhielt beispielsweise vor einer Aussage in New York eine telefonische Warnung: „Wir haben deinen Vater. Halte deinen Mund!“ Die Zeugin hat sich dennoch dazu durchgerungen zu sprechen. Ihr Vater war danach tot. Umso wichtiger ist es, sich schützend vor all diese mutigen Frauen und Männer zu stellen. Diese Zeugen verdienen unseren größten Respekt.
Die USA, Großbritannien und weitere westliche Staaten haben einen diplomatischen Boykott der Spiele beschlossen. Sollte Deutschland diesem Beispiel folgen? Oder sind sie gar für einen sportlichen Boykott?
Cavelius: Leider haben unsere deutschen Politiker momentan nicht mal den Mut, sich offen zu einem diplomatischen Boykott durchzuringen. Wer über Verbrechen solcher Ausmaße schweigt, ermutigt zu weiteren Gewalttaten. Ich selbst wünsche mir da mehr Ehrlichkeit und Olympische Spiele an einem anderen Ort. Und dass sich das IOC in Zukunft wieder an der Olympischen Charta orientiert, in der von Menschenwürde und Solidarität die Rede ist. Doch dem IOC-Präsidenten Thomas Bach geht es offensichtlich mehr um persönliche Macht und Milliardenprofite als um die olympischen Werte und die Zukunft seiner Kinder und Enkelkinder. Während die chinesische Führung ein buntes Fest des Friedens vortäuscht, werden unzählige Menschen misshandelt oder sterben qualvoll in den Lagern.
Zur Person: Alexandra Cavelius, 54, ist freie Autorin und Journalistin. Sie beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit der Unterdrückung ethnischer Minderheiten in China. Im Juni 2020 erschien unter dem Titel „Die Kronzeugin“ eine Biografie über Sayragul Sauytbay, die Co-Autorin des aktuellen, mit dem Internationalen Nürnberger Menschenrechtspreis 2021 ausgezeichneten Buches China-Protokolle.