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Noah Lyles siegt im 100m-Finale: Ein Olympischer Thriller

Olympia 2024

100-Meter-Finale: Knapper geht es nicht

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    Selbst auf dem Zielfoto ist es nicht ganz leicht zu erkennen, dass Noah Lyles das Rennen gewonnen hat.
    Selbst auf dem Zielfoto ist es nicht ganz leicht zu erkennen, dass Noah Lyles das Rennen gewonnen hat. Foto: Omega Timing

    Da standen sie unten auf der hellblauen Tartanbahn, die eigens für Olympia verlegt worden war, und blickten mit großen Augen hinauf zur riesigen Anzeigetafel. US-Star Noah Lyles oder Neuling Kishane Thompson aus Jamaika. Einer der beiden hatte gerade Gold über 100 Meter gewonnen. Doch wer? „Ich bin zu Kishane gegangen und habe gesagt: Bruder, ich glaube, du hast gewonnen. Ich war darauf vorbereitet, dass sein Name auftauchen würde, und als ich dann meinen Namen sah, dachte ich: Meine Güte, das ist ja unglaublich. Ich bin unglaublich“, sagte der Olympiasieger Lyles am späten Sonntagabend.

    Die 100 Meter sind die größte Show der Leichathletik

    Vorausgegangen war die (mal wieder) größte Show der Leichtathletik, vielleicht sogar der gesamten Olympischen Spiele. Die acht schnellsten Männer der Welt über 100 Meter. Quälend lange hatten alle schon vor dem Start warten müssen. Die Organisatoren zogen die Vorstellung extrem in die Länge. Bedeutungsschwangere Musik. Nahaufnahmen jedes Einzelnen. Starre Blicke, mahlende Kiefer. Kaum ein Lächeln. Bis obenhin voll gepumpt mit Adrenalin tigerten die Protagonisten hinter der Startlinie auf und ab. Ehe dann, endlich, eine sonore Stimme, mitten hinein in den infernalischen Lärm dazu aufforderte, sich in die Startblöcke zu begeben. „On your Marks“. Es dauerte ein paar Momente, bis das Stadion zur Ruhe kam. Dann schwieg der Hexenkessel. „Set.“ Schuss.

    All die Energie explodierte. Unten auf der Bahn und oben auf den Rängen. Thompson erwischte einen perfekten Start, Lyles die perfekte zweite Rennhälfte. Bei 65 Meter erreichte der US-Amerikaner seine Höchstgeschwindigkeit von 43,60 Stundenkilometern. Die Daten zeigten später, dass Lyles es schaffte, seine Geschwindigkeit für die verbleibenden 35 Meter zu halten, während Thompson schon wieder langsamer wurde. Lyles führte das Feld nur einmal an: auf der Ziellinie.

    Alle acht Sprinter blieben im Finale unter zehn Sekunden

    Zum ersten Mal in der olympischen Geschichte blieben alle acht Sprinter unter zehn Sekunden. Als sie im Ziel waren, herrschte unter dem Dach des Stade de France geschäftiges Treiben. Dort laufen all die Daten zusammen, aus denen die Spezialisten der Schweizer Firma Omega Timing die Ergebnisse der Wettkämpfe schöpfen und weitergeben. Bei Olympischen Spielen sind sie für alles verantwortlich, was gemessen werden kann. Zeiten, Spielstände, Wertungen. Die Firma ist mit 550 Mitarbeitern vor Ort. 350 Tonnen Ausrüstung wurden nach Paris gebracht, dort dann 200 Kilometer Kabel und Glasfaser verlegt. Die Königsdisziplin ist auch für sie das 100-Meter-Finale.

    Eine Spezialkamera der neusten Generation, platziert auf Höhe der Ziellinie, macht 40.000 Bilder pro Sekunde. Hochleistungsrechner werten diese Bilder aus und berechneten, dass Lyles mit der Winzigkeit von 0,005 Sekunden Vorsprung die Ziellinie passiert hatte. Fünf Tausendstel. 9,784 Sekunden zu 9,789 Sekunden. Auf der Pressekonferenz am Sonntagabend versuchte Lyles seinen Vorsprung zu visualisieren. Er hielt seinen Daumen und seinen Zeigefinger eine Winzigkeit auseinander und grinste sein gewinnendes Lächeln in den voll besetzten Raum.

    Der Tokio-Olympiasieger landete nur auf Platz fünf

    Im Vorfeld der Spiele hatte er sich selbst zum Favoriten auserkoren. Nicht ganz zu Unrecht, war er doch bei der WM des vergangenen Jahres dreimal mit Gold dekoriert worden. Viele unterstellten ihm jedoch Großmäuligkeit, denn noch nie gab es ein ausgeglicheneres Feld, als jenes, das sich in Paris versammelt hatte. Bezeichnend, dass dem Tokio-Olympiasieger Lamont Marcell Jacobs aus Italien nur eine Außenseiterrolle zugedacht war. In 9,85 Sekunden wurde er Fünfter. Insgeheim dürfte sich wohl auch Thompson als Favorit gefühlt haben. Zumindest legte seine Reaktion diese Vermutung nahe. Als die knappe Niederlage feststand, zog er ein Gesicht, als müsste er gleich weiter zur Wurzelbehandlung. „Ich bin schon ein bisschen enttäuscht“, sagte er später, gleichzeitig sei er aber auch glücklich.

    Und Lyles? Will nicht weniger, als die Menschen mit seiner Geschichte inspirieren. Auf X schrieb er noch in der Nacht des Rennens: „Ich habe Asthma, Allergien, Legasthenie, ADS, Angstzustände und Depressionen. Aber ich sage dir, dass das, was du hast, nicht definiert, was du werden kannst. Warum nicht Du!“ Kaum ein Sportler geht so offen mit seinen Einschränkungen um. In der Netflix-Dokumentation „Sprint“ spielt Lyles eine Hauptrolle. In Paris hat er nun geschafft, was 20 Jahre vor ihm keinem Amerikaner mehr gelungen war: Gold über 100 Meter. Der bis dahin letzte war Justin Gatlin 2004 in Athen gewesen. Danach hatte die Ära von Usain Bolt begonnen, ehe 2021 der Italiener Jacobs gewann. Sein erstes Ziel hat Lyles bereits erreicht. Doch er will mehr, vor allem mehr als Bolt. Der hatte nie mehr als dreimal Gold geholt (100 und 200 Meter, 4x100-Staffel). Lyles plant, zusätzlich zu Bolts Programm auch mit der 4x400-Meter-Staffel. „Ich bin der Wolf unter den Wölfen“, sagte er am Sonntag. Ein hungriger Wolf.

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