Die Europameisterschaft im kommenden Sommer soll für die deutsche Nationalelf zu einem zweiten Sommermärchen werden - wie es ist, im eigenen Stadion zwischenzeitlich das Gefühl eines Auswärtsspiels zu haben, erfuhr das Team von Julian Nagelsmann am Samstagabend in Berlin. Das Olympiastadion war fest in der Hand der türkischen Fans. Schon beim Aufwärmen begrüßten die türkischen Anhänger ihre Mannschaft lautstark. Das war so erwartet worden in der größten türkischen Stadt außerhalb der Türkei und verstärkte sich während der Partie noch. Vor allem der deutsche Kapitän Ilkay Gündogan, dessen Eltern aus Izmir stammen, wurde bei jedem Ballkontakt gnadenlos ausgepfiffen. Das Spiel geriet dann ähnlich emotional. Am Ende eines packenden Schlagabtausches verlor die DFB-Auswahl mit 2:3 - und für Nagelsmann steht nach seiner ersten Pleite als DFB-Coach fest: Vor allem in der Defensive drückt der Schuh. Sein Team leistete sich viele Unkonzentriertheiten, stand nach einfachen langen Bällen stellenweise gefährlich bloß.
Nagelsmann überraschte mit der Aufstellung in seinem ersten Heimspiel etwas. Kai Havertz, der eigentlich fürs Erzielen der Tore zuständig ist, startete als Linksverteidiger in einer Viererkette. "Er wird jetzt nicht immer der klassische Linksverteidiger sein, wie man ihn vielleicht kennt", erklärte Nagelsmann bei RTL. Tatsächlich hab Havertz eher einen offensiven Schienenspieler neben einer Dreierkette, sein Pendant auf rechts hieß Leroy Sané. Die Mittelfeldzentrale bildete Kapitän Ilkay Gündogan und einer, den mancher als Rechtsverteidiger erwartet hätte: Joshua Kimmich. Für Marc-André ter Stegen, der sich am Freitag mit Rückenproblemen abgemeldet hatte, stand Kevin Trapp im Tor.
Havertz besorgte nach fünf Minuten die deutsche Führung
Zum Aufwärmen waren einige der Lieder zu hören, die Nagelsmann beim öffentlichen Training der Nationalmannschaft spielen, unter anderem "Erfolg ist kein Glück" von Rapper Kontra K - ein Rezept, das sich auch die Nationalmannschaft auf die Fahnen geschrieben hat, wie Niclas Füllkrug unter der Woche sagte. Der Zug mit den offensiven Außenbahnspielern schien sich schon nach fünf Minuten auszuzahlen: Nach einem Steckpass war Sané auf rechts durchgebrochen. Der Bayern-Spieler legte im Strafraum quer - und im Nachsetzen war es Havertz, der die deutsche Führung besorgte (5.). Deutschland blieb gefährlich, spielte vor allem über die rechte Seite schnell nach vorne. Auf der anderen Seite war es ein gebürtiger Regensburger, der den ersten Schuss aufs deutsche Tor abgab. Kevin Trapp hatte den Versuch von Kenan Yildiz aber sicher (17.). Es entwickelte sich ein Spiel mit vielen Torraumszenen, auch wenn die großen Torchancen noch ausblieben.
Ab Mitte der ersten Hälfte hatten die Türken deutlich mehr vom Spiel - und die deutsche Abwehr schwamm auf einmal. Yusuf Yazici kam im Strafraum an den Ball, Gündogan blockte den Schussversuch zur Ecke (32.). Wenig später belohnten sich die Türken für ihren Leistungsanstieg: Nach einem langen Ball war Linksverteidiger Ferdi Kadioglu durch. Benjamin Henrichs stand zu hoch, Leroy Sané kam zu spät, ebenso wie Jonathan Tah mit seiner Grätsche.
Ein Ex-Bayern-Spieler schießt das 2:1 für die Türkei
Der 24-Jährige schloss kraftvoll ab - 1:1, das Olympiastadion bebte (38.). Kurz vor der Halbzeit die kalte Dusche: Ein langer Ball aus dem Mittelfeld offenbarte einmal mehr die Unpässlichkeiten in der deutschen Abwehr. Die Hereingabe konnte Tah nicht klären - und erneut war die rechte Flanke der DFB-Elf völlig offen. Kenan Yildiz, in der Bayern-Jugend ausgebildet, schloss in den Winkel zum 2:1 ab (45.), der Ball klatschte noch an den Innenpfosten.
Kurz nach Wiederanpfiff dann ein Kabinettstückchen von Florian Wirtz: Der Leverkusener wirbelte, ließ mehrere Gegenspieler aussteigen - und steckte durch auf Niclas Füllkrug durch. Der ließ Ozan Kabak alt aussehen und schob zum Ausgleich ein (49.). Es war der zehnte Treffer im zwölften Länderspiel für den BVB-Star. Die Türkei antwortete, der Schuss von Salih Özcan aus rund 20 Metern traf aber nur de Außenpfosten (52.). Deutschland war jetzt wieder mehr am Drücker: Nach einem Eckball legte Füllkrug quer auf Kimmich, dessen Kopfball war aber keine Gefahr für den türkischen Keeper Altay Bayindir (64.).
Ein strittiger Elfmeter brachte die Türkei erneut in Führung
Kurz darauf die strittige Szene: Im Strafraum sprang der Ball an die Hand von Havertz. Die türkische Bank sprang auf, doch Schiedsrichter Bartosz Frankowski ließ zunächst weiterspielen. Nach Sichtung der VAR-Bilder entschied er jedoch auf Strafstoß. Eine Absicht konnte man Havertz, der die Augen nicht mal in Richtung Ball hatte, kaum unterstellen. Yusuf Sari war das egal - er verwandelte zum 3:2 (71.). Bitter: Trapp war mit der Hand noch dran, konnte den Ball aber nicht mehr entscheidend ablenken. Nagelsmann wechselte, brachte Serge Gnabry und Leon Goretzka für Joshua Kimmich und Florian Wirtz. In den Schlussminuten hatte Gnabry noch die große Chance auf den Ausgleich, kam aber bei der Hereingabe von Henrichs zu spät (85.). Danach war Schluss - während die Türkei-Fans auch nach dem Schlusspfiff Grund zum Jubeln hatten, erlitt die Euphorie unter Nagelsmann einen ersten Dämpfer.