Deutschland war mal ein Boxer-Land. Das ist schon eine ganze Weile her. In den 1990er Jahren, da kannte beinahe jedes Kind die Namen der Helden des edlen Faustkampfes, dessen Ursprünge bis ins Jahr 3000 vor Christus zurückreichen. Selbst Fußballspieler wie Lothar Matthäus oder Jürgen Klinsmann hatten in Sachen Popularität ihre liebe Mühe, mit den neuen Idolen Schritt zu halten, die ihnen längst den Rang bei den kultigen Bravo-Starschnitten oder Panini-Bildchen abgelaufen hatten. Vor allem RTL, später auch die Öffentlich-Rechtlichen, hatten das Boxen als Samstagabend-Straßenfeger entdeckt. Boxen galt als cool.
Die Dekoration dafür bildeten herausgeputzte B-Promis, Schauspielerinnen und Schauspieler, Schriftsteller, Künstler und sogar Politiker. Auch die Halbwelt gehörte irgendwie dazu, aber weil so viele illustre Leute kamen, war es einfacher, sie zu übersehen. Es gab diese Zeit, als mancher sich den Wecker stellte, um einen Weltmeisterschaftskampf anzuschauen, wenn dieser in Übersee stattfand. Und ja, man mag es kaum glauben: Es gab sie wirklich, diese Zeit, in der das Boxen einmal ein glamouröser Sport war, vielleicht der schillerndste überhaupt – mit einem funkelnden Protagonisten René Weller.
Der letzte edle Sportsmann des Landes war Max Schmeling
Der Boom entlarvte sich jedoch als Blase, die so rasch platzen sollte, wie sie sich aufgebaut hatte. Heute darbt das Profiboxen, man hat den Eindruck, es verliert von Jahr zu Jahr mehr an Bedeutung. Was bleibt, sind die glorreichen Namen, die Geschichten, die sich um sie ranken. In Deutschland gab es davon reichlich. Aber wer von den einst gefeierten Kämpfern bleibt tatsächlich als Boxer in Erinnerung, als bewundernswerter Sportler mit einem Lebenswandel, der als Vorbild für die Jugend dienen kann, als Leuchtturm in einem toxischen Meer, bei dem sich regelmäßig um einen Ring herum Menschen verteilten, die es locker auf ein paar hundert Jahre Gefängnis bringen? Der letzte edle Sportsmann des Landes war tatsächlich Max Schmeling, ein Synonym für Kampfgeist und Fairness, ein Fighter mit dem Herz eines Löwen.
Und danach? Von Bubi Scholz ist vor allem in Erinnerung geblieben, dass er im Rausch seine Ehefrau erschossen hat und danach nie wieder auf die Beine kam. Henry Maske ist heute nur noch als "Gentleman" aus dem Osten in Erinnerung. Oder Axel Schulz, eine boxerisch eher mittelmäßig begabte, aber stets freundliche Erscheinung mit scheinbar angewachsener Kappe, einer, der kaum zuschlagen konnte und einmal als Kanonenfutter für den altersschwachen George Foreman engagiert wurde und nur durch Schiebung nach Punkten verlor. Vielleicht Dariusz Mihalczewski, von dem man vor allem weiß, dass er seine Frau verprügelte, dessen ewiger Widersacher Graciano Rocchigiani, ein ganz schlimmer Finger, oder Felix Sturm, der selbst heute noch von einer Haftstrafe zur nächsten taumelt. Weltmeister waren sie fast alle irgendwann einmal, aber was zählt das schon in einem Sport, in dem sich jeder das Glück kaufen kann? Doch der schillerndste, der bunteste Paradiesvogel unter all den deutschen Profiboxern kam aus dem baden-württembergischen Pforzheim: René Theo Weller. Oder besser: der schöne René.
Den Namen bekam er Anfang der 1980er Jahre wegen seines lockeren, hemdsärmeligen Auftretens verpasst, das Sorglosigkeit und Lebenslust widerspiegelte. Schöne Mädchen, am besten in jedem Arm zwei, und immer ein protziges Goldkettchen um den Hals: So lichteten ihn die Fotografen am liebsten ab. "Ich musste auffallen, um populär zu werden. Wer interessiert sich in Deutschland schon für einen ganz normalen Leichtgewichtsboxer?", hatte Weller 2018 dem Spiegel gestanden. Denn als Erstem war ihm bewusst geworden: Ein Boxer muss eine Rolle spielen. Wenn er diese gut ausfüllt, kann er auch damit gut leben. Oder scheitern.
René Weller wurde mehrere Male Europameister und auch Profi-Weltmeister
Weller inszenierte sich öffentlich, nebenher boxte er auch, wurde mehrere Male Europameister und nach Schmeling und Eckhard Dagge der dritte deutsche Profi-Weltmeister – wenn auch beim unbedeutendsten von vier konkurrierenden Verbänden. Aber was sagt das schon? Seine Kämpfe wurden mit Pomp inszeniert, sie vereinten zum ersten Mal dieses seltsam-faszinierende Amalgam aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten, Menschen aus der Halbwelt, Luden, Stars und Sternchen. Schon 1985 schrieb die Welt, "das Spektrum der Weller-Fans" erstrecke sich "vom Turnschuh bis zur Smoking-Fliege". Nur mit Weller ließen sich in Deutschland bei Boxveranstaltungen die Hallen einigermaßen füllen, was findige Promoter wie Winfried Sauerland oder Klaus-Peter Kohl sofort als einträgliches Geschäftsmodell erkannten. René Weller schlug für den späteren Boxboom in Deutschland eine tiefe Schneise und verhalf einigen Menschen zu Reichtum und Wohlstand.
Er selbst versuchte es ebenfalls. Vor seinem Kampf in Las Vegas 1982 gegen Charles La Cour setzte er bei einer Wette seine gesamte Gage in Höhe von 25.000 Dollar auf seinen eigenen Sieg – und gewann. Aber mit den damals noch bescheidenen Salären, die das Boxen abwarf, ließ sich ein Leben, wie es der gelernte Heizungsmonteur und Goldschmied führen wollte, kaum bestreiten. Also nahm er 1985 die Hauptrolle im Kinofilm "Macho Man" an und ließ ein paar Jahre später per Unterlassungsklage alle Sexszenen daraus entfernen. Weller entwickelte einen einträglichen Geschäftssinn, vertrieb Hosen, Autos, Uhren, Gold und Jacken unter dem Markennamen Rewell, später brachte er sogar eine Gürtel- und Goldschmuckkollektion heraus. Und da jeder singen kann und das nicht zwingend in der Badewanne tun muss, beglückte er die Republik 1980 mit dem musikalischen Tiefschlag "Knock ihn aus", es folgten der "René Weller Rap" und in den 2000er Jahren ganze CDs, wovon er die letzte "Wach auf" 2006 im Online-Bordell "Big Sister" vorstellte.
Bei ihm ging es immer ums Geld, um Anerkennung, ums Im-Rampenlicht-Stehen, das er brauchte wie ein Fisch das Wasser. In seinem bewegten Leben ließ Weller so gut wie nichts aus: Frauen, Partys, Showbiz, Gefängnis. Wegen Kokainhandels, der Anstiftung zur Urkundenfälschung sowie unerlaubten Waffenbesitzes buchteten sie ihn 1999 mit einer Haftstrafe ein, viereinhalb Jahre. Dabei sei er doch reingelegt worden, mit Drogen habe er nie etwas zu schaffen gehabt, versicherte er bis zuletzt. Bei einem Weltmeisterschaftskampf gegen den Amerikaner James Ortega saßen sechs Kripobeamte mit einem Haftbefehl in der Tasche am Ring. Die ließen Weller erst durch die Seile klettern, als er 7000 Mark hinblätterte – weil er am selben Tag eine Gerichtsverhandlung als Zeuge geschwänzt hatte.
2014 wurde bei René Weller Demenz diagnostiziert
So blieb er auch nach seinem offiziellen Abschied vom Ring ein Liebling des Boulevards, als C-Promi im "Big-Brother"-Haus, beim "Perfekten Dinner" oder beim "Promi-Frauentausch", immer wieder gerne genommen, seine Launen ertragen und in Kauf genommen, weil er perfekt die Rolle des Boxers mit all seinen Facetten verkörpern konnte. Nicht ganz ohne Stolz betonte René Weller vor einigen Jahren, dass andere drei Leben haben müssten, "um das zu erleben, was ich erlebt habe".
Seine letzten Jahre verbrachte der einstige Womanizer, Strahlemann und Champ mit 55 Profikämpfen, von denen er nur einen verlor, wie ein biederer, braver Bürger. Notgedrungen. Denn eine 2014 diagnostizierte Demenzerkrankung vernebelte zunehmend seine Wahrnehmung. Natürlich musste selbst das Sterben von René Weller medienwirksam begleitet werden, die Bild-Zeitung hatte sich die Rechte auf exklusive News vom Krankenbett gesichert. Noch Anfang August verkündete seine Frau Maria geräuschvoll ein Hausverbot für Renés Schwester Verena, weil diese verfrüht zum Tod ihres Bruders kondoliert hatte.
Der ist nun tatsächlich eingetreten, am Dienstagabend. Das letzte gemeinsame Foto auf Instagram, ein paar Abschiedszeilen, und René Weller, das ewige Stehaufmännchen, ist tatsächlich tot, mit gerade mal 69 Jahren. "Ich bedanke mich für das wunderschöne Leben und unsere einzigartig große Liebe. Niemand kann dich ersetzen, denn so wie du kann niemand mehr sein! Du hast gekämpft wie ein Löwe, aber leider deinen letzten Kampf verloren", schrieb Maria, die ihn bis zuletzt pflegte.
Sie wird auch darüber wachen, dass die Trauerfeier nach einem ganz bestimmten Muster über die Bühne geht. Sechs ehemalige Boxer sollen den Sarg in die Kapelle tragen, dazu soll "Time To Say Goodbye" von Andrea Bocelli erklingen. Im Sarg soll Harley-Davidson-Bettwäsche ausgelegt werden, den Deckel zieren eine rote Rose, seine Boxhandschuhe und eine Deutschland-Fahne. Das hatte sich René Weller noch selbst ausgedacht, bevor die Krankheit vollends von ihm Besitz ergriff.