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Nachruf: Kugelstoßer Rolf Oesterreich schaffte den Weltrekord, den es nicht geben durfte

Nachruf

Kugelstoßer Rolf Oesterreich schaffte den Weltrekord, den es nicht geben durfte

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    Rolf Oesterreich (Mitte) wäre mit seiner Weite als einer der Favoriten zu den Olympischen Spielen gefahren. Die DDR-Funktionäre aber zogen ihn aus dem Verkehr.
    Rolf Oesterreich (Mitte) wäre mit seiner Weite als einer der Favoriten zu den Olympischen Spielen gefahren. Die DDR-Funktionäre aber zogen ihn aus dem Verkehr. Foto: Rolf Oesterreich

    Es gäbe reichlich Stoff für einen Blockbuster, einen Film über den Sport, wie er abenteuerlicher kaum sein könnte, über ein menschenverachtendes System und einen Außenseiter, der sich trotz staatlicher Willkür nicht unterkriegen lässt – aber ohne Happy End. Wer die Geschichte des Kugelstoßers Rolf Oesterreich hört, eines kleinen, kräftigen, untersetzten Mannes, den kaum einer kannte und der kurz nach Weihnachten genauso unbemerkt in Neukirchen im Erzgebirgekreis mit 73 Jahren nach jahrelangen Herzproblemen starb, der kommt aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus. Denn Oesterreich war Weltrekordler im Kugelstoßen. Aber einer, den es offiziell niemals gab, weil die Funktionäre der DDR ihn aus allen Rekordlisten und Geschichtsbüchern tilgten.

    Der Fall erinnert ein wenig an die jüdische Hochspringerin Gretel Bergmann, die die Nazis 1936 um ihre Olympiateilnahme und eine Medaille betrogen. Im Gegensatz zu der 2017 im Alter von 103 Jahren in den USA gestorbenen Leichtathletin erfuhr Oesterreich zeitlebens aus sportlicher Sicht jedoch allenfalls eine Art Teil-Wiedergutmachung. Der gordische Knoten begann sich erst durch den Roman "Beste Absichten" von Thomas Brussig 2017 zu lösen. "Die Geschichte dieses Weltrekords ist so verrückt, dass sie nur wahr sein kann", wundert sich Brussig noch immer.

    Eigentlich war der DDR-Sport doch auf Erfolge ausgerichtet

    Auf den Schwarz-Weiß-Fotos von 1976 wirkt der junge Kugelstoßer fröhlich, gut gelaunt, optimistisch. Niemand ahnt, welche Schikanen er während seiner Schattenlaufbahn erdulden musste. Warum bloß? Schließlich war das staatliche Sportsystem der DDR ja darauf ausgerichtet, die Überlegenheit des Sozialismus durch Höchstleistungen unter Beweis zu stellen. In Kaderschmieden wurden die Athleten zu Leistungsmaschinen herangezüchtet. Doch einer wie der Oesterreich passte nicht ins Konzept, denn er war kein staatlich kontrollierter Kaderathlet, sondern war ein einfacher Volkssportler. Seine anfänglichen Erfolge: bescheiden. Für die klassische Angleittechnik war der Sachse viel zu klein. Im Fernsehen fiel ihm 1974 der sowjetische Kugelstoßer Alexandr Baryschnikow auf, der da etwas ganz völlig Neues präsentierte. Vor dem Stoß vollführte er wie ein Diskuswerfer eineinhalb Drehungen und wandelte die dabei entstehende Energie in Weite um. Ein Königsweg für schnelle, weniger bullige Athleten, heute wegen des Beschleunigungswertes für die Kugel besonders bei den Männern längst die dominierende Bewegungsart. Nicht nur der aktuelle Weltrekordler Ryan Crouser (USA; 23,37 Meter) bevorzugt sie – für Rolf Oesterreich war sie schlicht perfekt.

    Ein autodidaktischer Tüftler wie er war vom "Staatsbetrieb VEB Medaillen und Rekorde" freilich schlicht nicht eingeplant. Der vom SED-Zentralkomitee gesteuerte Deutsche Turn- und Sportbund (DTSB) hielt das Drehstoßen zudem für eine amerikanische Erfindung. Das störte den Pädagogik-Studenten herzlich wenig, schließlich ging es ja nur um Sport und Erfolg – dachte er. Innerhalb von nur zwei Jahren schraubte er mit "dem Dreh" seine Hausrekorde von 16,84 Meter auf über 20 Meter. Oesterreich hoffte, in den Hochleistungssport-Zirkel der DDR aufgenommen zu werden, er träumte von den Olympischen Spielen 1976 in Montreal. Doch die Sportfunktionäre ließen ihn auflaufen. Immer und immer wieder. Nachdem er am 19. Mai mit 21,45 Metern Udo Bayer von der Pole-Position der DDR-Bestenliste verdrängt hatte, zogen sie ihn über Nacht aus dem Verkehr und erklärten ihn für körperlich nicht belastbar. "Eine Karriere als Hochleistungssportler ist auszuschließen" hieß es lapidar. Das Aus für den Montreal-Qualifikationswettkampf in Karl-Marx-Stadt.

    Diese Urkunde soll den Weltrekord von Rolf Oesterreich belegen.
    Diese Urkunde soll den Weltrekord von Rolf Oesterreich belegen. Foto: Rolf Oesterreich

    Eine Mischung aus Wut und Trotz trieb Rolf Oesterreich an, weiter zu trainieren. Seine Bühne sollten schließlich die Bezirksmeisterschaften am 12. September 1976 im sächsischen Zschopau werden, wo er – inzwischen in der Form seines Lebens – unbedingt Weltrekord stoßen wollte. In "Beste Absichten" schildert Thomas Brussig den gestohlenen Triumph: "Jeder im Stadion spürte, dass jetzt etwas geschieht, was von einer Magie ist, wie sie nur der Sport bereithält. Nach einer Kraftexplosion, begleitet von einem Schrei, flog die Kugel. Sie flog länger, als je eine Kugel in der Luft war, und sie landete bei 22,11 Meter. Der Versuch war gültig. Jubel brandete auf und am lautesten jubelte Rolf Oesterreich. Der erträumte Weltrekord war Wirklichkeit. Doch er wurde behandelt, als hätte es ihn nie gegeben. Schon bei der Siegerehrung verkündete der Stadionsprecher, dass die Bezirksmeisterschaft mit einer "sehr guten Weite" gewonnen worden sei, in der Freien Presse gab es zwar ein Bericht über die Bezirksmeisterschaften, aber kein Wort zum Kugelstoßen. Die Siegerurkunde hatten die DTSB-Funktionäre zurückverlangt. Ein Vordruck, auf dem mit blauem Filzstift die Siegerweite geschrieben stand: 22,11 Meter. Oesterreich hat sie aber behalten, neben verschwommenen Fotos als einzigen Beweis.

    Bis heute hat der betrogene Weltrekordler keine Würdigung seiner Leistung oder eine Entschuldigung erhalten. In der ewigen Bestenliste des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) sind die 22,11 Meter am Ende schamvoll mit einem Sternchen verewigt. Dort steht: "Die Leistung wurde von der damaligen DDR aus heute nicht mehr nachvollziehbaren Gründen nicht anerkannt." Es wäre Platz vier hinter Ulf Timmermann (23,06 Meter), Udo Bayer (22,64 Meter) und David Storl (22,20 Meter). Bayer selbst bemüht sich heute als einer der wenigen Zeitgenossen um eine Rehabilitation seines einstigen Kontrahenten: "Oesterreichs Pech war mein Glück. Wenn er bei der Qualifikation seine Weite gestoßen hätte, wäre ich nicht nach Montreal gefahren und nicht Olympiasieger geworden."

    Rolf Oesterreich nahm ein bitteres Fazit mit ins Grab

    Auch den Vorwurf, Oesterreichs Kugel sei manipuliert gewesen, hält Bayer für Blödsinn: "Eine Kugel wiegt sieben Kilo und 260 Gramm, der Schwerpunkt ist völlig egal. Entscheidend ist der Mensch, also Rolf Oesterreich." Und schließlich gab es da immer wieder die ritualisierten Abwehrkämpfe in Sachen Doping. "So was konnte man in den Apotheken der DDR nicht kaufen und als besserer Hobbysportler hatte ich ohnehin keinen Zugang zu den unterstützenden Mitteln", argumentierte Oesterreich und man war tatsächlich geneigt, es ihm zu glauben.

    Nach dem geplatzten Traum einer internationalen Karriere wurde der einstige Kugelstoßer Sportlehrer und schließlich zu einem Wanderprediger in Sachen Drehstoßtechnik. Dass sein Weltrekord über Jahrzehnte hinweg totgeschwiegen und vertuscht wurde, hat Rolf Oesterreich bis zum Schluss nicht verwunden. Sein bitteres Fazit nimmt er jetzt mit ins Grab: "Mich hat es eigentlich nie gegeben."

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