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Leichtathletik-WM: Wenn sich Träume in Luft auflösen

Leichtathletik-WM

Wenn sich Träume in Luft auflösen

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    Leo Neugebauer konnte sich den Medaillentraum nicht erfüllen. Noch nicht.
    Leo Neugebauer konnte sich den Medaillentraum nicht erfüllen. Noch nicht. Foto: Marcus Brandt, dpa

    Verhext? Schlechtes Karma? Oder eine fast vorhersehbare Verknüpfung von Umständen, die einfach nicht zusammenpassen? Man kann darüber rätseln. Aber vielleicht ist Leichtathletik ja doch ein verkappter Mannschaftssport, auch wenn ihn einen Haufen Individualisten – manche nennen sie nicht ganz zu Unrecht Egoisten – betreibt. Denn jeder im Lager des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) kennt ihn mittlerweile, den Teamspirit, diesen Flow, der einen erfasst, im Teamhotel, im Stadion, auf der Straße, überall. Bei den Europameisterschaften in München im vergangenen Jahr war es ein positiver, der beflügelte, der viele unerwartete Erfolgserlebnisse zutage förderte und als Werbung für die gesamte Sportart taugte. Die Helden der EM landeten beinahe automatisch auf den Thron der "Sportler des Jahres".

    Diese Ehrung wird 2023 ohne die Leichtathletik stattfinden. Denn in Budapest bei der WM, die am Sonntagabend mit einer feierlichen Schlussfeier zu Ende ging, gab es keine strahlenden deutschen Helden, keine Schlüsselerlebnisse. Alle spürten neun Tage lang das genaue Gegenteil von München: einen Negativ-Flow. Da halfen auch die zwanghaft aufgerufenen Stimmungsaufheller im Lager des DLV wenig. Wenn selbst der personifizierte Rettungsanker Leo Neugebauer trotz eines fulminanten Auftakts in den Zehnkampf nichts ausrichten kann, herrscht wirklich Tristesse im deutschen Leichtathletik-Lager.

    Neugebauer startete auf 9000-Punkte-Kurs – und verlor ihn alsbald

    Der 23-jährige Senkrechtstarter war am Freitagmorgen im Nemzeti-Atlétikai-Központ-Stadion so gut wie noch nie in einen Zehnkampf gestartet, hatte mit 10,69 Sekunden über 100 Meter, 8,00 Metern im Weitsprung und fulminanten 17,04 Metern im Kugelstoßen die Segel direkt Richtung 9000 Punkte gehisst. Doch dann, in der Mittagspause, geschah etwas mit dem Gute-Laune-Boy. Der mental eigentlich unverwundbare deutsche Rekordhalter hatte wohl ein paar Gespräche über den möglichen Titel und Medaillen zu viel geführt. Neugebauer verlor seine Lockerheit. Ein leidlicher Hochsprung mit 2,02 Metern, ein müder 400-Meter-Lauf: Das blöde Gefühl nimmt man mit in die Nacht. Auf dass es am zweiten Tag – leider – so weitergeht. Beim 110-Meter-Hürden-Lauf fabrizierte er einen Fehlstart, stürzte fast an einer Hürde und kam mit der schlechtesten Zeit aller Teilnehmer ins Ziel (14,75 Sekunden). Auch im Diskuswerfen blieb Neugebauer, der in den USA lebt und trainiert, mit 47,63 Metern fast acht Meter unter seiner Bestleistung.

    Genau an dieser Stelle beginnt nun das deutsche Problem. Anstatt sich auf das Wesentliche zu fokussieren, reden Trainer, Funktionäre und sogar Medienschaffende selbst Beinahe-Katastrophen zwanghaft schön. Jetzt komme die Trendwende, hieß es vollmundig, als der Stabhochsprung mit 5,10 Metern wieder einigermaßen im Soll lag, obwohl jeder wusste, dass Speerwerfen und 1500 Meter zu Neugebauers schwächsten Disziplinen zählen. Der Held in Lauerstellung pushte derweil seinen Fanklub auf der Tribüne im brütend heißen Stadion an der Donau, hatte trotz gefühlter 46 Grad "unfassbar Spaß". Am Schluss jedoch stehen nüchterne Zahlen: Nach Tag eins lag er 25 Punkte besser als bei seinem deutschen Rekord (8836 Punkte), mit dem er sich im Juni in Texas ins Bewusstsein der Öffentlichkeit katapultiert hatte. Am Schluss wurde es Platz fünf. Aber konnte man bei 8645 Punkten und dem zweitbesten Zehnkampf dieser noch jungen Karriere wirklich von einer Enttäuschung sprechen? Selbst für Bronze hätte es hinter den phänomenalen Kanadiern Pierce Lepage (8909) und Damian Warner (8804) schon eines erneuten deutschen Rekordes bedurft. Doha-Weltmeister Niklas Kaul hatte bereits am ersten Tag mit einer Fußverletzung passen müssen, der Ulmer Manuel Eitel belegte mit 8191 Punkten Platz elf.

    Dann wird halt Platz fünf als Erfolg gefeiert

    Am Ende wurde es für Neugebauer Rang fünf, den sie im Lager des DLV notgedrungen wie einen Erfolg feierten, wie bei Geher Christopher Linke, Hochspringer Tobias Potye sowie der Mannheimer Kugelstoßerin Yemisi Ogunleye, die bei ihrem ersten großen internationalen Einsatz mit 18,97 Metern Zehnte wurde, aber in der Qualifikation mit 19,44 Meter die drittbeste Weite aller Athletinnen erzielte. Oder der ersatzgeschwächten 4 x 100-Meter-Staffel, die nur durch einen Protest noch einen Finalplatz ergattert hatte und hier nach mehreren Disqualifikationen auf Bahn eins mit 42,98 Sekunden auf Rang sechs einlief. In Interviews danach fielen immer wieder dieselben Worte: "Achterbahn der Gefühle" oder "Können zufrieden sein".

    Was tatsächlich stimmte, war die Gewissheit, dass der Druck auf die Leichtathletinnen und Leichtathleten mit jedem weiteren medaillenlosen Tag extreme Ausmaße annahm. "Ich bin ja noch jung und habe nicht so viel Erfahrung", strahlte Leo Neugebauer am Samstag in der Mixed-Zone. "Meine Beine haben sich schon ein bisschen schwer angefühlt. Aber ich habʼs geschafft und es am Ende noch rausgeholt. Es hat so viel Spaß gemacht!" Die richtig spaßigen Zeiten kommen ja noch.

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