Doch, es waren schöne Weltmeisterschaften. Stimmungsvoll. Intensiv. Voller emotionaler Momente. Und unsagbar heiß. Letzteres könnte man auch als besonders leistungsfördernd bezeichnen, wenn man nicht unbedingt zur Spezies der Langstreckenläufer gehört. Manche sagen sogar, es sei die beste Leichtathletik-WM in der bislang 40-jährigen Geschichte dieses Event gewesen. Wenn man einmal die deutsche Brille ablegt.
Der englische Weltverbandspräsident Sebastian Coe stand garantiert nie im Verdacht, eine zu besitzen. Deshalb mögen ihm auch die Probleme des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), der zwar einen tadellosen Ruf als Premium-Veranstalter solcher Championships besitzt, aber sportlich spätestens jetzt in die zweite Liga abgerutscht ist und in Budapest mit der verheerenden Bilanz null Medaillen einen historischen Tiefpunkt erreicht hat, relativ egal sein. Während die Deutschen ihren wie ein Schutzschild aufgebauten Spaß-und-Gute-Laune-Sprech erst am letzten Tag der Spiele gegen ein Quäntchen Selbstkritik eintauschten, griff Lord Coe tief in die Kiste der Superlative. "Ich kann mich an keine bessere Stimmung bei einer WM erinnern", bemühte der 66 Jahre alte Brite vor den sonntäglichen Wettkämpfen im neu erbauten Nemzeti-Atlétikai-Központ-Stadion direkt an der Donau diplomatisch sein Kurzzeitgedächtnis, vorsorglich die faszinierende WM 2009 mit Superstar Usain Bolt im Berliner Olympiastadion unter den ungarischen Teppich kehrend.
Weltverbandspräsident Coe trifft sich mit IOC-Präsident Bach
Immerhin hat Coe, der gerade erst für seine dritte Amtszeit als Weltverbandspräsident wiedergewählt wurde, noch nicht das Gerücht dementiert, er wolle die Nachfolge von IOC-Präsident Thomas Bach antreten, wenn dieser 2025 abtreten müsse. Mit dem Deutschen traf er sich in Budapest schon mal – angeblich um sich über die Herausforderungen des Klimawandels und den Sport-Terminkalender auszutauschen, der grundlegend auf den Prüfstand gestellt werden müsse. Auch für die Arbeit der Organisatoren und den Rückhalt durch den rechtspopulistischen ungarischen Regierungschef Victor Orbán fand Sebastian Coe anerkennende Worte: "Das war wirklich eine großartige Weltmeisterschaft". 400.000 Karten wurden in 120 Länder verkauft, fast 95 Prozent des Kontingentes.
Dass es keinen Weltrekord wie von Coe versprochen gegeben habe – so what! Ganz nah dran war der schwedische Stabhochspringer Armand Duplantis, bei dessen Versuchen über 6,23 Meter das Stadion am Wochenende förmlich den historischen Moment herbeischreien wollte. "Es hat sich gut angefühlt, aber ich erinnere mich nicht so recht dran. Ich hatte einen kleinen Blackout", gestand Duplantis anschließend. So gewann er standesgemäß mit 6,10 Meter vor dem besten Silbermedaillengewinner aller Zeiten, Ernest John Obiena (Philippinen), der 6,00 Meter überquerte. Mit drei Titeln sammelte US-Sprinter Noah Lyles Punkte im Ringen um das Bolt-Erbe, nachdem er auch noch mit dem 4 x 100-Meter-Quartett der "Stars and Stripes" den Titel geholt hatte. Und dann waren da noch die fast außerirdische Langstrecklerin Faith Kipyegon und die unglaubliche Femke Bol, die im allerletzten Rennen dieser WM über 4 x 400 Meter die Niederlande raketengleich auf den Staffelthron katapultierte.
Julian Weber muss ansehen, wie Jakub Valdlejch an ihm vorbeizieht
Die Frage nach den Deutschen tut da fast schon weh. Am Finaltag starb die letzte Medaillenhoffnung in Gestalt von Julian Weber im fünften Durchgang um 21.04 Uhr. Der letzte Mohikaner der einst ruhmreichen Speerwerfergilde war mit seinen 85,79 Meter lange auf dem Silberrang gelegen, musste dann jedoch mitansehen, wie ihm der Tscheche Jakub Valdlejch das sehnlichst erhoffte Edelmetall klaute. Gold und Silber gingen nach Indien (Neeraj Chopra mit 88,17 Meter) und Pakistan (Arshad Nadeem mit 87,82 Meter). Hochspringerin Christina Honsel wurde mit ansehnlichen 1,94 Metern Achte und die junge 3000-Meter-Hindernisläuferin Olivia Gürth zauberte den Verantwortlichen mit ihrem neuen deutschen U 23-Rekord von 9:20,08 Minuten wenigstens für 2,4 Sekunden ein Lächeln auf die Lippen. Mehr war nicht.
DLV-Sportdirektor Jörg Bügner, erst seit ein paar Monaten im Amt, räumte bei der Abschlusspressekonferenz überraschend selbstkritisch ein, "dass wir in vielen Disziplinen den Anschluss an die Weltspitze verloren haben." Diese habe sich signifikant weiterentwickelt. Selbst ein deutscher Rekord reiche nicht mehr zur Medaille. Und die Medaillen verteilen sich auf immer mehr Nationen – insgesamt 40 an der Zahl. Nun ist er also da, der Worst Case, den nach Eugene 2022 niemand für möglich gehalten hätte und der sich nach neun Tagen Budapest auch nicht mehr schönreden lässt. Zur Erinnerung: Vor einem Jahr gab es immerhin je einmal Gold und Bronze.
DLV-Präsident: deutscher Sport bräuchte "die ein oder andere Milliarde"
Inzwischen gibt es erste Forderungen, aber vor allem an die Politik. DLV-Präsident Jürgen Kessing, im Hauptberuf SPD-Oberbürgermeister von Bietigheim-Bissingen, mahnte eine nationale und politische Kraftanstrengung an. Man bräuchte "die eine oder andere Milliarde und Olympische Spiele, um die Krise des deutschen Sports zu beenden". Ob sich solche gravierenden Probleme wie in der deutschen Leichtathletik aber nur mit Geld lösen lassen?