Ist man gleich wieder ein notorischer Schwarzseher, wenn man die deutsche Realität bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Budapest benennt, die von diesem Samstag bis Sonntag, 27. August, stattfinden? Das arg dezimierte Aufgebot des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) lässt für das „Prinzip Hoffnung“ kaum Spielraum. Medaillenhoffnungen wie Malaika Mihambo, die ihren Weitsprungtitel in der ungarischen Hauptstadt nicht verteidigen kann, 5000-Meter-Europameisterin Konstanze Klosterhalfen, Stabhochspringer Bo Kanda Lita Baehre oder Speerwerfer Johannes Vetter haben längst abgesagt. Sie stehen auch für die Delle in der deutschen Leichtathletik, dieser einst schillernden und massenkompatiblen Alternative zum allmächtigen Fußball.
Die Liste der verletzungsbedingten Absagen ist zweistellig
Die prominenten Namen sind nicht die einzigen Ausfälle, die dem DLV augenblicklich Kummer bereiten. Eine ungewöhnliche Häufung von gerissenen Muskelfasern, Sehnen oder Kreuzbändern hat zu einem wahren Streichkonzert bei der Nominierung für Budapest geführt, das in den vergangenen Tagen noch durch einige weitere Tonfolgen verlängert wurde und auch Kritiker wie die frühere Bundestrainerin Gertrud Schäfer auf den Plan gerufen hat. Sie werfen dem Verband verfehlte Präventionspolitik vor, fragen, was seit der Ankündigung Idriss Gonschinska bei der WM 2019 in Doha – damals noch als Generaldirektor – passiert sei. Der hatte ein digitales, App-basiertes System versprochen, das fortan die Verletzungen von Kaderathleten drastisch senken sollte: das „Athleten-Monitoring“. Heute, als Vorstandsvorsitzender des DLV, steht Gonschinska vor der mithin größten Verletztenliste, die die deutsche Leichtathletik je vor einem Großereignis zu verzeichnen hatte. Die Ausfallrate liegt im zweistelligen Bereich und dämpft die Erwartungen für Budapest, ein Jahr nach der schlechtesten WM in der Geschichte des DLV, schon vor dem ersten Startschuss.
Neues Schuhwerk macht offenbar verletzungsanfälliger
Natürlich gibt es Gründe, die bei einer Windpocken-Infektion wie die der Münchner Grundschullehrerin Katharina Trost keiner Diskussion bedürfen, aber in anderen Fällen durchaus Fragen aufwerfen. Mehrere Jahre im Hamsterrad des Hochleistungssports fordern nun mal ihren Tribut. Eine interessante Antwort lieferte Gina Lückenkemper. Die Doppeleuropameisterin hält es für möglich, dass das neue Schuhwerk der Sportlerinnen und Sportler einen großen Anteil an der Verletzungsflut haben könnte. „Diese ganze Entwicklung mit den Carbonschuhen und diesen Bouncer-Spikes ist mit ein bisschen Vorsicht zu genießen“, sagte Lückenkemper. Mittlerweile sei es „echt extrem, wie viele Athleten aktuell mit irgendwelchen Achillessehnenproblemen oder Fußproblemen zu tun haben“.
Der am Donnerstag als Präsident des Leichtathletik-Weltverbandes wieder gewählte Engländer Sebastian Coe wird schon gewusst haben, warum er für Budapest eine Reihe von neuen Weltrekorden versprach. Denn nicht zuletzt durch die scherzhaft als „Schuhdoping“ bezeichnete Innovation fielen in jüngerer Vergangenheit zahlreiche Bestmarken. Die in den Schuhsohlen enthaltenen Kohlenstofffasern sorgen dafür, dass weniger Energie beim Aufprall des Schuhs auf dem Boden verloren geht, was Kraft und Sekundenbruchteile spart.
Lückenkemper und Linke appellieren an den Mannschaftsgeist
Mittlerweile haben Lückenkemper und Co. in Budapest Quartier bezogen. Die 26-jährige Wahl-Bambergerin und Christopher Linke (SC Potsdam), Vizeeuropameister im 35-Kilometer-Gehen wurden bei der ersten Mannschaftssitzungen als Teamkapitäne bestimmt. Beide appellierten an den Mannschaftsgeist, der sich in Erding gebildet habe. „Ich habe Bock auf diese WM und ich glaube, das geht jedem von euch so. Gebt euch gegenseitig Support und feuert das Team an“, sagte Lückenkemper.
Dennoch werden bei den Titelkämpfen im nagelneuen Leichtathletikzentrum Nemzeti Atlétikai Központ andere im Mittelpunkt stehen. Der schwedische Überflieger Armand Mondo Duplantis im Stabhochsprung etwa, die kenianische Mittelstrecklerin Faith Kipyegon, die mit Weltrekorden über 1500 und 5000 Meter sowie einer Meile innerhalb von nur sieben Wochen aufhorchen ließ, der Hochsprungwettbewerb der Frauen, wo mit Jaroslawa Mahutschich und Iryna Heraschtschenko gleich zwei ukrainische Athletinnen mit Bestleistungen über 2,00 Metern auf Gold hoffen, und im Sprint der Frauen der exaltierte US-Star ShaʼCarri Richardson, eine Sportlerin, die nach einer Marihuanasperre wieder Richtung Weltspitze stürmt.
Deutschland hat an guten Tagen Außenseiterchancen
Und die Deutschen? Weil der DLV nach der Verletzungsmisere und dem medialen Fegefeuer nach der WM in Eugene kein konkretes Ziel ausgeben wollte, wird sich wohl alles auf Europameister Niklas Kaul und Rekordhalter Leo Neugebauer im Zehnkampf, Speerwerfer Julian Weber, vielleicht noch den Münchner Hochspringer Tobias Potye und Diskuswerferin Kristin Pudenz, die an guten Tagen Außenseiterchancen besitzen, konzentrieren. So oder so: Es verspricht ein Spektakel zu werden – dank der schnellen Bahn und des ultramodernen Schuhwerks. Wenn auch kein deutsches.