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Leichtathletik-WM 2023: Leo Neugebauer ist Deutschlands neue Zehnkampf-Hoffnung

Leichtathletik-WM 2023

Leo Neugebauer ist Deutschlands neue Zehnkampf-Hoffnung

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    Leo Neugebauer knackte überraschend den deutschen Uralt-Rekord im Zehnkampf. Sein nächstes Ziel sind nun 9000 Punkte.
    Leo Neugebauer knackte überraschend den deutschen Uralt-Rekord im Zehnkampf. Sein nächstes Ziel sind nun 9000 Punkte. Foto: Michael Kappeler, dpa

    An das Bild muss man sich erst noch gewöhnen: Während in der Vergangenheit immer wieder die gleichen Gesichter die Medientage des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) bestimmten, so ist es diesmal in Erding am Rande der blauen Bahn des Sepp-Brenninger-Stadions ein völlig neues. Ein Fernseh-Reporter plaudert mit der Olympiazweiten Kristin Pudenz, Gina Lückenkemper hat sich schon ins Hotel zurückgezogen und die jungen, noch weitgehend unbekannten Sportlerinnen und Sportler schlendern nahezu unbehelligt vorbei. Das Gros der Journalisten drängt sich nur um einen Tisch. Leo Neugebauer hat dort Platz genommen, ein Hüne von zwei Metern Körpergröße, fast 110 Kilogramm Gewicht, charmant, eloquent und die geballte Aufmerksamkeit sichtlich genießend.

    Neugebauer sorgte in den USA für einen Rekord

    Neugebauer, gerade erst 23 geworden, sorgte am 8. Juni bei den NCAA Division Championships in Austin/Texas – den amerikanischen College-Meisterschaften – für den leichtathletischen Paukenschlag des Jahres. Mit 8836 Punkten löschte er den deutschen Zehnkampf-Uraltrekord von Jürgen Hingsen aus, schob sich auf Platz neun der ewigen Weltbestenliste und hinterließ nicht nur in den Gesichtern der Experten, sondern auch in denen der Verantwortlichen des DLV viele Fragezeichen. Leo wer? Klar kannte man den Jungen aus dem württembergischen Leinfelden-Echterdingen, immerhin hatte er ja schon 2017 mit der Bronzemedaille bei den U18-Weltmeisterschaften in Nairobi (Kenia) angedeutet, was ihn ihm steckt, und im März mit 8478 Punkten die Norm für die WM und die Olympischen Spiele 2024 in Paris abgehakt. Ein interessanter Zehnkämpfer ohne jeden Zweifel, aber auch einer, der sein komplettes Rüstzeug in den USA verliehen bekam. Dort studiert Neugebauer nämlich seit 2019 und hat sich vom klassischen Talent deutscher Prägung mit Mindesthaltbarkeitsdatum zu einem Weltklasseathleten gemausert, der bei den am Samstag beginnenden Weltmeisterschaften in Budapest mindestens zum Kreis der Medaillenanwärter zählt.

    Der Schritt, in den USA zu trainieren, war die genau richtige Entscheidung

    Rückblende: Noch vor einigen Jahren hatten die deutschen Bundestrainer ihren Nachwuchs eindringlich davor gewarnt, nach dem Schulabschluss dem Werben amerikanischer College-Scouts nachzugeben und mit dem Entzug des Kaderstatus oder anderer Unterstützungen gedroht. Aber die Erfolge von Konstanze Klosterhalfen und Gina Lückenkemper, die in den USA trainieren, und letztlich auch Leo Neugebauer ließen die Kritiker allmählich verstummen. Heute gilt es längst als Erfolgsmodell, in die USA zu gehen, wenn auch als individuelles, das sich nicht eins zu eins auf jeden passgenau übertragen lässt. „Ich hatte Riesenglück“, sagt Neugebauer mit einem Lächeln, „den richtigen Trainer und die passende Trainingsgruppe zu finden. Der Schritt nach Amerika war für mich die beste Entscheidung meines Lebens und ich würde sie auf jeden Fall wieder treffen. Ich bin beim täglichen Training von richtigen Klasseathleten umgeben, da komme ich bei Läufen fast immer als Letzter ins Ziel.“ 

    Sein Sportstipendium in den USA lieferte Neugebauer professionelle Rahmenbedingungen: zwei Mal Training pro Tag, Physiotherapie und kurze Wege. Die Aufmerksamkeit und Wertschätzung für den Sport seien in Amerika auf einem ganz anderen Niveau, schwärmt der Shootingstar. Mehrere Mitarbeiter an der Uni planen seinen Tag, bringen Vorlesungen und Training unter einen Hut oder stellen seinen Wettkampfkalender zusammen. Neugebauer hat den Kopf frei, reift nicht nur körperlich, sondern auch mental zum Spitzenathleten.

    Während der frischgebackene deutsche Zehnkampf-Rekordhalter dies erzählt, beobachtet ihn ein paar Meter entfernt sein amerikanischer Coach Jim Garnham, eine athletische Erscheinung in den Vierzigern. Die Uni hat ihn freigestellt, um ihr „Juwel“ in die Heimat und nach Budapest zu begleiten, weshalb Garnham auch ein rotes DLV-Poloshirt tragen darf. „Wir verstehen uns super“, bekennt Leo Neugebauer. „Er glaubt an mich.“ Bestes Beispiel: Vor dem Start in Austin hielt der Coach seinem Schützling ein Foto von Jürgen Hingsen unter die Nase. „Er sagte: ,Hey Leo, schau mal: Das hier ist der beste deutsche Zehnkämpfer`. Und ich dachte mir: Warum zeigst du mir das? Ich werde das nicht erreichen.“ Neugebauer hielt den deutschen Rekord damals für „untouchbar“, wie er in seinem speziellen englisch-schwäbischen Kauderwelsch verrät. Aber das war er nicht. „Jetzt habe ich es halt echt geschafft. Ich wusste, dass ich gut bin, aber dass ich so gut bin? Da habe ich mich selbst ein wenig überrascht. Krass!“

    Neugebauers nächstes Ziel: 9000 Punkte

    Dass er den gewaltigen Leistungssprung inzwischen mental verarbeitet hat, gehört zu Neugebauers großen Stärken. „Natürlich war das in Austin ein perfekter Wettkampf“, findet der Mann, dessen größte Stärke es ist, kaum Schwächen zu haben. „Aber im Kugelstoßen und über 110 Meter Hürden war ich noch ein wenig zu vorsichtig. Da gibt es noch Luft nach oben. Wie in den anderen Disziplinen auch.“ Neugebauer hat Großes vor: Als fünfter Zehnkämpfer der Geschichte möchte er die magische 9000-Punkte-Marke übertreffen. Schon in Budapest? „Das hängt von vielen Faktoren ab, vom Wetter natürlich. Aber, ja, ich möchte angreifen.“ 

    Und schon geht der Gesprächsmarathon in Erding weiter. Leo Neugebauer hat für alle ein Lächeln parat, bleibt freundlich, mitteilsam und fühlt sich pudelwohl in der Rolle als neues Gesicht der deutschen Leichtathletik. Dessen Wert haben sie auch beim DLV erkannt. Man möge das Interview doch bitte im Schatten weiterführen, wacht Mediendirektor Peter Schmitt mit Argusaugen über das Wohl des Hingsen-Erben. „Denn Hitze bekommst du in den nächsten Tagen in Budapest noch mehr als genug.“

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