Dass sich der Sportverein mit dem Bayer-Logo im Wappen früher nicht überall "Vizekusen" nennen lassen musste, dafür sorgen ganz zuverlässig die Leichtathleten. Seit Jahrzehnten gilt der Club nämlich als Aushängeschild der Sportart, die bislang größten Erfolge der Leichtathletik in diesem Land sind untrennbar mit dem Namen Bayer 04 Leverkusen verbunden, zuletzt auch der Titelgewinn von Konstanze Klosterhalfen über 5000 Meter bei den Europameisterschaften 2022 in München. Aber ausgerechnet das Mädchen mit den langen wehenden Haaren, die mit Abstand beste deutsche Läuferin der vergangenen zehn Jahre, wirft im Olympiajahr mehr Fragen als plausible Antworten auf.
Statt am Wochenende in der Diamond-League in Marrakesch an der Startlinie zu stehen, ging die Europameisterin lieber ins Höhentrainingslager nach St. Moritz, um weiter an ihrer Form für die Europameisterschaften vom 7. bis 12. Juni in Rom und die Olympischen Spiele in Paris zu arbeiten. "Mein Fokus liegt jetzt erstmal auf der EM. Das ist ein ganz dankbarer Zwischenschritt in einer superlangen Saison", versuchte die 27-Jährige wie gewohnt alle Sorgen wegzulächeln. "Ich werde die EM auch nutzen, um mich für Olympia gut aufzustellen." Denn als Titelverteidigerin ist Klosterhalfen dort gesetzt. Aber im Medaillen-Tempo ist sie knapp drei Wochen in der italienischen Hauptstadt noch nicht unterwegs. Und was noch viel schwerer wiegt: Bis heute hat sich das einstige Glamourgirl der deutschen Leichtathletik nicht einmal für Olympia qualifizieren können. Alle bisherigen Versuche über 10.000 und 5000 Meter, ob in Paderborn oder in Regensburg, gingen krachend in die Hose.
Auch Klosterhalfens Trainer sind ratlos
Viele Leichtathletikfans rätseln: Was ist bloß mit "Koko" los? "Sie läuft im Moment ihrer Form hinterher. Woran das genau liegt, kann ich nicht beurteilen, weil ich nicht nah genug dran bin, auch wenn wir im stetigen Austausch stehen", sagt Bundestrainerin Isabelle Baumann. "Es wäre sehr wichtig, dass sie rechtzeitig in Form kommt. Sie ist eine absolute Leistungsträgerin." Vom Sorgenkind selbst gibt es allenfalls vage Andeutungen. Anfang Mai hieß es von Klosterhalfen, dass es zuletzt "ein bisschen Unruhe" gegeben habe. "Jetzt kommt alles wieder ein bisschen runter", meinte die WM-Dritte von 2019. Damit beschrieb die mehrfache deutsche Rekordhalterin einen abermaligen Trainerwechsel. Von Gary Lough, dem Ehemann der früheren Marathon-Weltrekordlerin Paula Radcliffe, hatte sie sich nach nur wenigen Monaten wieder getrennt.
Abermals machen nun Gerüchte die Runde, wie damals, als es schien, als besitze Deutschland endlich wieder eine Läuferin, der es gelingen könnte, der jahrzehntelangen ostafrikanischen Dominanz Paroli zu bieten. Mit gerade mal 21 Jahren hatte sich Klosterhalfen dem höchst umstrittenen und inzwischen aufgelösten Nike Oregon Project (NOP) angeschlossen, dessen Headcoach Alberto Salazar 2019 zunächst wegen Dopings und später dann wegen sexuellen und emotionalen Fehlverhaltens lebenslang gesperrt wurde. Sie bewegte sich in einem höchst zwielichtigen Umfeld, für das sie sich in ihrer deutschen Heimat pausenlos rechtfertigen musste, nicht nur wegen ihrer spindeldürren Statur, bei der die Vermutungen, sie leide unter Magersucht, nie ganz verstummen wollten.
Der Wechsel von Nike zu Puma war der größte Bruch für Klosterhalfen
Dennoch gelang es ihrem US-Trainer Pete Julian, mit dem Klosterhalfen auch nach der Auflösung des NOP weiter zusammenarbeitete, das hohe Niveau der Vorzeigeläuferin zu halten. Aus dieser Zeit stammen auch die meisten deutschen Rekorde, die sie reihenweise purzeln ließ. Mehrere langwierige Verletzungen warfen sie allerdings immer wieder zurück und beschleunigten ihren schleichenden Leistungsabfall. Den größten Bruch in Klosterhalfens bisheriger Karriere löste jedoch der Wechsel von Sportartikelhersteller Nike zum Konkurrenten Puma im April 2023 aus – verbunden mit der Trennung von ihrem langjährigen Coach Julian. In den folgenden Monaten verpasste sie nicht nur verletzungsbedingt die WM in Budapest, sondern verschliss mit Alistair Cragg und Lough zwei weitere Trainer. Zu allem Überfluss kam dann im Winter noch ein völlig missglücktes zweimonatiges Trainingslager in der äthiopischen Hochebene auf 2700 Metern Höhe hinzu, das dazu führte, dass sie völlig außer Form geriet.
Dass Klosterhalfen selbst diesem Desaster noch etwas Positives abgewinnen kann, spricht für ihr stets positives, freundliches Naturell. Sie lächelt. Die Begegnung mit dem dreifachen Olympiasieger Kenenisa Bekele habe ihr "superviel Zuversicht" gegeben. Mit Naivität sollte man das jedoch nicht verwechseln. Klosterhalfen selbst weiß genau, dass sie derzeit nur noch ein Schatten ihrer selbst ist, allem Frohsinn, den sie auch in trüben Tagen zur Schau stellt, zum Trotz. "In den Gesprächen finde ich sie extrem realistisch. Sie kann ihre Situation und ihren weiteren Weg gut beschreiben", meint Bundestrainerin Isabell Baumann, die Frau des Olympiasiegers von 1992, Dieter Baumann. Das Training gestalte sie jetzt in ihrem Bonner Umfeld mit Unterstützung von alten Quellen, alten Trainern und einer sehr minutiös geführten Trainingsdokumentation selbst, verriet die Bundestrainerin. "Ich denke, dass Koko aufgrund ihres Talentes die Chance hat, den Weg zurückzufinden", erklärt die Bundestrainerin professionell. Die Uhr tickt. In 67 Tagen fällt der Startschuss für Olympia.