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Leichtathletik: DLV-Chef Jochen Schweitzer: „Olympia in Deutschland ist überfällig“

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DLV-Chef Jochen Schweitzer: „Olympia in Deutschland ist überfällig“

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    Yemisi Ogunleye war eine der positiven Überraschungen bei den Olympischen Spielen in Paris. Die Kugelstoßerin gewann Gold.
    Yemisi Ogunleye war eine der positiven Überraschungen bei den Olympischen Spielen in Paris. Die Kugelstoßerin gewann Gold. Foto: Michael Kappeler, dpa

    Jochen Schweitzer, vier Leichtathletik-Medaillen bei den Olympischen Spielen in Paris – das sind vier mehr als bei der WM in Budapest 2023. Sind Sie zufrieden?
    JOCHEN SCHWEITZER: Ja. Schon im Frühjahr habe ich gesagt, dass wir vier bis fünf Medaillen holen können. Leistung ist bis zu einem gewissen Punkt planbar, aber am Schluss braucht es immer das berühmte Quäntchen Glück, das diesmal Kugelstoß-Olympiasiegerin Yemisi Ogunleye auf ihrer Seite hatte, weil eine Favoritin aus den Niederlanden in der Qualifikation scheiterte und eine starke Amerikanerin dann im Finale nicht ihr Potenzial abrufen konnte. Die Türe zum Gold war dann einen Spalt offen, und Yemisi ist eben durchgegangen. So ist das beim Sport: Glück und Pech liegt ganz nah beieinander. So blieb unser Speerwerfer Julian Weber leider bei starker Konkurrenz ohne Medaille, genauso wie Diskuswerferin Marike Steinacker, die Vierte wurde, oder Hochspringerin Christina Honsel, der ein einziger Fehlversuch mehr den Weg auf das Treppchen verbaut hat. Das macht den Reiz dieser Sportart aus. Außerdem sollte man nicht vergessen: 2024 hat das 100. Land bei den Olympischen Spielen eine leichtathletische Medaille gewonnen. Der Anteil derer, die etwas vom Kuchen wollen, wird immer größer, weil man überall auf der Welt laufen, springen oder werfen kann.

    Jüngst tauchte der Begriff „Schnellboote“ in der Leichtathletik auf. Dabei geht es um eine neue Struktur im DLV. Was verbirgt sich dahinter?
    SCHWEITZER: Vergangene Woche hatten wir hier in Erding die Tagung der deutschen Landesverbände, dazu trafen sich auch der Vorstand des Deutschen Leichtathletik-Verbandes und der Aufsichtsrat. Dabei hat uns DLV-Sportvorstand Jörg Bügner diesen Begriff erklärt. Er spielt im Konzept für eine Neuorganisation des Spitzensports im DLV eine zentrale Rolle. Dabei soll es für jede Disziplingruppe künftig eine schlagfähige Mannschaft aus Teammanagement, Bundestrainern sowie Bundesstützpunkttrainern geben.

    Was steckt da für ein Ziel dahinter?
    SCHWEITZER: Wir wollen, dass die Trainer wieder näher an die Sportlerinnen und Sportler heranrücken und weitgehend von administrativen Aufgaben entbunden werden. Es geht in erster Linie darum, Leistung zu entwickeln. Das soll unsere primäre Aufgabe in der Zukunft sein. Wir stehen im DLV vor einem großen Generationswechsel: Viele verdiente Bundestrainer sind bereits in den Ruhestand gegangen, in den nächsten drei Jahren werden weitere 20 aus Altersgründen folgen. Allerdings haben auch wir ein Nachwuchsproblem, es gibt schlicht zu wenige qualifizierte junge Trainer. Deswegen liegt mir persönlich sehr viel daran, den Trainerberuf wieder aufzuwerten. Bislang gibt es für Leichtathletiktrainer auf Bundesebene Gehaltsobergrenzen. Im vergangenen Jahrzehnt gab es keine Gehaltssteigerungen und in vielen Fällen nur befristete Verträge. Deshalb ist es nur mäßig attraktiv, in Deutschland den Beruf des Leichtathletiktrainers zu ergreifen, sodass viele ins Schulsystem abwandern, da dieses größere Sicherheiten bietet. Und wir haben in der Vergangenheit auch viel Know-how ins Ausland verloren. Die Leichtathletik in Deutschland muss sich bei der Politik für einen Wegfall der Gehaltsobergrenzen starkmachen und für eine Reduzierung der Befristungen einsetzen.

    Braucht es auch mehr Geld, um effizienter arbeiten zu können?
    SCHWEITZER: Wir sollten uns beim DLV mehr um die Nester kümmern, dort wo die Athletinnen und Athleten groß werden, leben, studieren und trainieren. Dieser soziale Effekt ist für sehr viele Sportlerinnen und Sportler wichtig. Doch das Spitzensportfördergesetz sieht das bislang so nicht vor. Geld gibt es nur für bestimmte Projekte, die wir klar definieren müssen, davon laufen im DLV unzählige. Einfacher wäre für uns eine Budgetfreiheit mit Leitplanken, innerhalb derer wir selbstständig entscheiden können, was wir unterstützen. Dazu kommt noch PotAS (das Potenzialanalysesystem des DOSB, die Grundlage für die Mittelvergabe an olympische Spitzenverbände; Anm. d. Red). Wir müssen dringend von dieser überbordenden Bürokratie weg, das blockiert uns ungemein.

    Das Thema „Doping“ empfinden viele deutsche Leichtathleten weiterhin als Wettbewerbsnachteil, weil sie so engmaschig überprüft werden wie in kaum einem anderen Land, aber dann international gegen Konkurrenz anzutreten haben, die nur einen Bruchteil solcher Kontrollen über sich ergehen lassen muss.
    SCHWEITZER: Für der DLV und mich gilt nach wie vor die Null-Toleranz-Politik. Dazu gibt es keine Alternative. Mir ist ein sauberer fünfter oder sechster Platz bei Olympia lieber als ein schmutziges Gold. Vielleicht müssen auch die Medien in dieser Hinsicht mal ein bisschen gegensteuern und nicht immer nur den Medaillenspiegel in den Vordergrund stellen.

    Ist die gesellschaftliche Akzeptanz von Leistungssport nicht auch ein Problem?
    SCHWEITZER: Durchaus. Die Bereitschaft, sich mit anderen messen zu wollen, ist deutlich zurückgegangen. Junge Menschen strömen zwar nach wie vor in die Vereine, aber viele wollen dort nur noch trainieren und keine Wettkämpfe bestreiten. Man orientiert sich in der Gesellschaft lieber am Mittelmaß, verliert aber dabei die Spitze aus den Augen. Ich kenne diese Haltung als Lehrer in der Schule nur zu gut. Der Spagat zwischen den Polen wird jedenfalls immer größer.

    Eine deutsche Olympiabewerbung wäre da wahrscheinlich hilfreich.
    SCHWEITZER: Nehmen Sie das Beispiel Australien, wo 2000 die Olympischen Spiele stattfanden. Jetzt, 24 Jahre später, erntet der australische Sport noch immer die Früchte. Denn unmittelbar nach der Vergabe erfolgte dort eine radikale Änderung der Strukturen durch den Aufbau gezielter Förderung. Ähnlich war es in Großbritannien 2012, und Frankreich wird denselben Weg gehen. Deswegen brauchen wir das unbedingt! Jede Athletengeneration sollte ein sportliche Großereignis einmal im eigenen Land erleben dürfen. Olympia ist in Deutschland überfällig! Ich treibe auch aktiv eine Bewerbung Münchens für die Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2029 oder spätestens 2031 im Olympiastadion voran. Wir wissen seit der EM 2022, was für eine tolle Stimmung die Sportlerinnen und Sportler dort beflügeln kann. Bis zum nächsten Großereignis können wir unmöglich wieder 50 Jahre warten.

    Wo steht die Leichtathletik Ihrer Meinung nach generell in Deutschland?
    SCHWEITZER: In Paris hatten ARD und ZDF sagenhafte Einschaltquoten, auch durch die Livestreams im Internet. Über acht Millionen Menschen sahen am Abend des 100-Meter-Finales zu, der Marktanteil lag bei 36,3 Prozent. Das sind Zahlen, die für sich sprechen, das war absoluter Wahnsinn und so nicht selten dagewesen! Darauf könnten wir aufbauen. Aber zum einen gibt es auch die gesellschaftliche Diskussion über Leistungssport, die uns nicht immer guttut. Dabei wären Leistungssportler doch ideale Vorbilder, nach denen sich jede Gesellschaft sehnt. Und dann fehlt es schlichtweg am Geld, um Talente abzusichern, damit sie sich in der Erwachsenenklasse etablieren können. Die Zahl der Spitzensport treibenden Vereine in der Leichtathletik wird immer kleiner, weil die Sponsoren ihr Geld lieber anderweitig einsetzen, und der Zugang zu den Sportzügen von Bundeswehr und Polizei ist nur wenigen vergönnt. Eine Sport-Grundförderung des Bundes zum Beispiel würde hier einen wertvollen Beitrag leisten, die jeder Perspektivkader neben der bisherigen Sportförderung erhalten könnte. Leistungssport zu treiben, darf nicht das einseitige Risiko der Sportler bleiben.

    Ihre persönliche Vita liest sich nicht wie die eines 41-Jährigen. Vom Wettkampfwart über den Bezirksvorsitzenden bis hin zum Chef des weltweit mitgliederstärksten Leichtathletik-Verbandes ist fast alles darin enthalten. Was treibt Sie an?
    SCHWEITZER: Ich will etwas bewegen. Und dann muss man auch selbst mit anpacken. Das gilt für alle Bereiche, in der Jugend, bei den Senioren, im Breitensport ebenso wie im Spitzensport. Ich bin mir nicht zu schade, bei Kreismeisterschaften an der Grube zu stehen, um den Sand glatt zu rechen. Die Liebe zur Leichtathletik habe ich in der Familie mitbekommen. Schon mein Papa war in den 1980er und 1990er Jahren Präsident des Bayerischen Leichtathletik-Verbandes. Da bin ich halt reingerutscht und durfte recht jung recht viel machen. Heute erfordert alles ein gutes Gespür, auch um einen Ausgleich zu meinem Beruf und meiner Familie zu finden. Ich bin zwar als Aufsichtsratsvorsitzender nicht mehr im operativen Geschäft, weiß aber aufgrund meiner Erfahrung ganz genau, wie das dort funktionieren sollte. Mein Credo lautet deshalb: Es kann nur im Team funktionieren. Keiner darf sich über die Sache stellen, nur gemeinsam können wir gewinnen.

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