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Kommentar: Früher war mehr Euphorie – diese EM kann trotzdem märchenhaft werden

Kommentar

Früher war mehr Euphorie – diese EM kann trotzdem märchenhaft werden

Tilmann Mehl
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    Noch ist nicht abzusehen, in welche Richtung sich die Stimmung während der EM entwickelt.
    Noch ist nicht abzusehen, in welche Richtung sich die Stimmung während der EM entwickelt. Foto: Uwe Anspach

    Der Sport entfacht seine größte Kraft, wenn er die Sachebene verlässt. Wenn aus dem Ergebnis ein Erlebnis wird. Die Weltmeisterschaft 2006 verbindet ein ganzes Land nicht deswegen mit einem fröhlichen Sommer, weil die deutsche Nationalmannschaft am Ende Dritter wurde. Die Fans - auch jene, die nur alle vier Jahre Fußballspiele verfolgen - waren bereit, sich begeistern zu lassen. Klinsmanns Spieler taten ihnen den Gefallen, im Wortsinn mitreißenden Fußball zu spielen. 

    Zur nun beginnenden Europameisterschaft ist Vorfreude zu spüren, das schon. Euphorie aber mag nicht so recht aufkommen. Konstatieren Journalisten, Soziologen und all die klugen Menschen, die danach gefragt werden. Die politische Großwetterlage, die Kriege, eine durch Corona entzweite Gesellschaft - all das habe derart auf die Laune gedrückt, dass der Wille zur kollektiven Freude noch nicht abzusehen ist.

    EM 2024: Ob das alles mit der Deutschen Bahn klappen wird?

    Das Sommermärchen 2006 war ein einmaliges Erlebnis. Es zu wiederholen, kann nicht das Ziel der Organisatoren der EM 2024 sein. Geschichte wiederholt sich nicht. Dieses Turnier wird seine eigene Geschichte schreiben. In erster Linie geht es darum, den 24 Mannschaften samt ihrer Fans ein Umfeld zu bieten, in dem sie sich wohlfühlen können. Auf das Wetter - das im dauersonnenenscheinenden Sommer 2006 eine große Rolle gespielt hat - haben die Funktionäre keinen Einfluss. Ebenso wenig auf die Deutsche Bahn, die einer Belastungsprobe unterzogen wird, deren Ausgang bitter werden könnte. 

    Als die Deutschen vor 18 Jahren die WM organisierten, wusste das Land im Übrigen auch nicht genau, wo es stand. Die Arbeitslosenquote lag mit 12 Prozent etwa doppelt so hoch wie heute. Schon damals hinkte das Land in Sachen Digitalisierung hinterher. Ehe sich das Land einig in den Armen lag, blickte es misstrauisch auf sich selbst. 

    Mit dem Anpfiff des Spiels gegen Costa Rica aber: Party. Deutschland präsentierte sich als weltoffener, sympathischer Gastgeber. Das wird diesmal ähnlich sein. Ob sich schließlich doch noch alltagsflüchtende Euphorie einstellt, ist zu einem großen Teil abhängig von der deutschen Nationalmannschaft. Scheidet das Team in der Vorrunde aus, bleibt das große Fest aus. Dass diese Möglichkeit überhaupt in Betracht gezogen wird, hat sich die Auswahl mit den grauen Auftritten bei den vergangenen drei Turnieren selbst zuzuschreiben. Auch hier wieder die Parallele zu 2006, als die Klinsmänner noch im März 1:4 gegen Italien untergegangen waren.

    Julian Nagelsmann aber scheint gerade noch rechtzeitig, die Kehrtwende eingeleitet zu haben. Zuletzt stand da eine Mannschaft auf dem Feld, die Spiele gewann - und dabei auch noch Freude versprühte. Dieses Team kann weit kommen. Weil es aber erst seit kurzer Zeit in dieser Konstellation zusammenspielt, ist auch ein abermaliges frühes Ausscheiden erneut möglich. So unvorhersehbar ist der Fußball. So unvorhersehbar ist dieses Turnier. Um es genießen zu können, müssen sich die Menschen darauf einlassen. Nur dann kann aus einem Ergebnis ein Erlebnis werden. Niemand ist dazu gezwungen, Deutschland-Deko aus dem Keller zu holen. Aber wer mag: gerne. Alles kann, nichts muss. Das ist die Kraft des Fußballs. Beinahe märchenhaft. 

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