Vor knapp zwei Monaten war Julian Nagelsmann mit einer klaren Zielsetzung an seine Aufgabe als Bundestrainer gegangen: Klare Strukturen, klarer Plan, keine Experimente. "Der Plan wird nicht so komplex und kompliziert wie im Vereinsfußball", so der 36-Jährige bei seiner Vorstellung. Es gibt innerhalb des engen Zeitplans ja auch kaum Gelegenheiten für Testspiele. Auf der USA-Reise verordnete der Coach seinem Team ein klares System mit Viererkette, fuhr einen Sieg gegen die Vereinigten Staaten und ein Remis gegen Mexiko ein. So weit, so gut.
Bei der 2:3-Pleite gegen die Türkei überraschte Nagelsmann dann schon bei der Aufstellung. Die zuletzt von Flick versuchte Dreierkette kam wieder zum Einsatz, noch dazu eine große Überraschung: Mittelstürmer Kai Havertz lief als Linksverteidiger auf. Nagelsmann schränkte zwar noch vor Anpfiff ein, dass Havertz keinen klassischen Außenverteidiger geben würde. Nach fünf Minuten sah vieles danach aus, als ob Nagelsmann mit der ungewöhnlichen Personalie einen Coup gelandet hätte – Havertz erzielte die deutsche Führung.
Schon ein einziger langer Ball genügte, um die deutsche Abwehr bloßzustellen
Mit zunehmender Spieldauer verfestigte sich aber der Eindruck: Die Umstellung ging zulasten einer defensiven Stabilität. Im ungeliebten System genügte, wie bei den ersten beiden Gegentoren, schon ein einziger lang geschlagener Ball, um die deutsche Abwehr zum Schwitzen zu bringen. Nagelsmann hat gezockt, verloren – und ist drauf und dran, dieselben Fehler wie sein Vorgänger Hansi Flick zu begehen.
Auch sein Vorgänger testete gegen die Ukraine, Polen und Kolumbien die Dreierkette – und ging damit völlig baden. In seinem letzten Länderspiel gegen Japan stellte Flick dann Innenverteidiger Nico Schlotterbeck als Linksverteidiger. Der war – anders als Havertz – völlig indisponiert und wurde nach einer Stunde erlöst. Lothar Matthäus brachte es bei RTL auf den Punkt: "Ich habe gedacht, die Ausprobiererei ist vorbei, nachdem Hansi Flick beurlaubt worden ist."
Nagelsmann glaubt an den Havertz-Kniff: "Kann Topspieler der EM werden"
Das scheint nicht der Fall zu sein. In der Pressekonferenz nach dem Spiel zeigte sich Nagelsmann fast schon trotzig, attestierte Havertz etwa eine starke Leistung und sah das Modell mit einer Dreierkette und dem Arsenal-Stürmer auf Außen als mögliches Konzept für die EM. Auf dieser Position könne Havertz "einer der Topspieler der EM werden". Auch Flick bemühte sich zum Ende seiner Amtszeit in Schönrederei. Fakt ist: Gegen ein individuell zweitklassig besetztes türkisches Team fing sich die deutsche Mannschaft wieder drei Gegentore ein. Offensiv mag die DFB-Auswahl unter Nagelsmann zugelegt haben – solange die Defensive derart löchrig ist, hilft das wenig. Erst recht bei einer Europameisterschaft.