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Kommentar: Deutschland gelingt bei der Handball-WM die sportliche Zeitenwende

Kommentar

Deutschland gelingt bei der Handball-WM die sportliche Zeitenwende

Rudi Wais
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    Die deutsche Mannschaft musste gegen Frankreich eine Niederlage hinnehmen.
    Die deutsche Mannschaft musste gegen Frankreich eine Niederlage hinnehmen. Foto: Jan Woitas, dpa

    Das neue deutsche Handballwunder – es ist um mindestens ein Jahr vertagt. Ein Team ohne große Namen und mit fast 500 Länderspielen weniger als sein Gegenüber aus Frankreich trotzt dem Olympiasieger im Viertelfinale der Weltmeisterschaft eine Halbzeit lang, ist am Ende aber zu fahrig und zu nervös, um die kleine Sensation zu schaffen. Trotzdem: Seit der Europameisterschaft und Olympia-Bronze 2016 hat keine deutsche Handballmannschaft mehr eine bessere Werbung für ihren Sport gemacht. Ins Halbfinale zieht sie zwar nicht ein, Platz fünf aber ist noch drin – und wäre gemessen an dem, was Handball-Deutschland im Moment zu leisten vermag, mindestens ein Achtungserfolg, wenn nicht gar eine sportliche Zeitenwende.

    Anders als die Kollegen mit dem Ball am Fuß, die bei großen Meisterschaften zuletzt dreimal früh scheiterten, haben die Handballer sich aus ihrem Leistungsloch schneller als erwartet wieder herausgekämpft. Von dem Team, das bei der WM vor zwei Jahren noch hinter Exoten wie Argentinien oder Katar auf Platz zwölf landete, sind in Polen und Schweden nur noch sechs Spieler dabei. Behutsam, aber konsequent hat Bundestrainer Alfred Gislason es runderneuert, hat erfahrene Seiteneinsteiger wie den Erlanger Christoph Steinert geholt, der erst im fortgeschrittenen Handballeralter von 32 Jahren zu einem festen Teil der Mannschaft wurde, und den jungen Philipp Köster, der vor einem Jahr mit dem VfL Gummersbach noch in der zweiten Liga spielte und deshalb in seiner Statistik mehr Länderspiele als Bundesligaspiele stehen hat. Undenkbar im Fußball.

    Handball-WM macht Mut für die EM im eigenen Land

    Die größte Metamorphose allerdings hat Gislason selbst durchlaufen. Lange Zeit gefürchtet für die so genannten Beleidigungsstunden, in denen er seine Mannschaften nach verlorenen Spielen in der Kabine lautstark zusammenfaltete, ist der Isländer mit den Jahren nicht milder in seinem Urteil, aber ruhiger und gelassener in seinem Auftreten geworden. Er ist eine Autorität, ohne autoritär zu sein. Der kooperative Ton, den der 62-Jährige heute anschlägt, färbt auf die Spieler ab, die er zu einer harmonischen Einheit gefügt hat. Sie sind nach allem, was man weiß, tatsächlich eine Mannschaft und kein Zusammenschluss von Partikularinteressen zur Steigerung des eigenen Marktwertes. Was ihnen im Vergleich zu den Handball-Titanen aus Frankreich, Dänemark oder Schweden an Talent, Spielwitz und Wurfkraft fehlt, machen sie durch Einsatz und Tempo zu großen Teilen wett – nicht die schlechtesten Voraussetzungen für die Europameisterschaft in einem Jahr im eigenen Land. Und das spricht sich herum: Alleine in den vergangenen zehn WM-Tagen hat der Handballbund 13.000 Tickets für das Eröffnungsspiel verkauft.

    Franz Beckenbauer hat die Fußball-Nationalmannschaft 1990 mit dem schlichten Satz "Geht's raus und spielt's Fußball" zur Weltmeisterschaft geführt. Alfred Gislason, so scheint es, hält es heute ähnlich. "Spielt, was ihr wollt" gab er seinem Team in  einer Auszeit im Spiel gegen Argentinien mit auf dem Weg. So viel Vertrauen ist selten im Spitzensport – und zahlt sich irgendwann aus. Wie hieß es einst in der Werbung einer großen Bankengruppe? Vertrauen ist der Anfang von allem.

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