Herr Keymer, Sie befinden sich gerade im Abiturstress. Im Januar hatten Sie Ihre schriftlichen Prüfungen, an diesem Mittwoch noch eine mündliche. Dazwischen fanden immer wieder Turniere statt. Wie schaffen Sie es, das alles unter einen Hut zu bringen?
Keymer: Ich kann mir schon Zeit für die Vorbereitung auf die mündliche Prüfung nehmen; natürlich sicherlich weniger als andere. Man muss schauen. Normalerweise beschäftige ich mich im Idealfall kurz vor dem Turnier möglichst viel mit Schach. Es ist jetzt eine besondere Situation, weil die mündliche Prüfung kurz vor dem Grand Prix ist. Da werde ich dann vielleicht auch merken, dass das Nachteile ergibt. Aber ich kann nur versuchen, beides möglichst gut zu schaffen und dann sehen, wie es läuft.
An einem Tag, an dem Sie nichts für die Schule tun müssen, beschäftigen Sie sich acht bis zehn Stunden mit Schach. Wie kann man sich so einen Tag vorstellen?
Keymer: Ich mache mehr oder weniger nicht viel anderes als Schach. Ich esse zwischendurch, gehe mal raus und ruhe mich zwischendurch aus. Ansonsten trainiere ich. Trainieren heißt Stellungen analysieren. Ich schaue mir eine Eröffnungsstellung an und analysiere dann mit der Engine (Computer-Schachprogramm/Anm. d. Red.): Was sind die besten Varianten? Wenn Topturniere mit den weltbesten Spielern stattfinden, schaue ich: Was haben die gespielt? Gibt es da etwas Neues? Das muss man regelmäßig machen und es dauert natürlich auch sehr lange.
Betreiben Sie eigentlich noch andere Sportarten?
Keymer: Ja, Fahrradfahren oder Joggen zum Beispiel. Zum Ausgleich muss man schon etwas machen – Schachtraining findet ja meistens sitzend vor dem Computer statt. Früher war ich auch in Sportvereinen. Da war immer das Problem, dass es festgesetzte Termine sind und ich wegen den Schachterminen dann sehr oft nicht da sein konnte.
Was Keymer an Schach fasziniert
Schach wird als Sportart manchmal belächelt. Vermissen Sie die Wertschätzung für Ihren Sport?
Keymer: Natürlich wäre es wünschenswert, wenn Schach mehr Aufmerksamkeit bekommen würde. Aber dass es belächelt wird, habe ich zumindest noch nicht so oft erlebt.
Sie selbst spielen Schach, seit Sie fünf Jahre alt sind. Was fasziniert Sie so sehr daran?
Keymer: Jeder Schachspieler hat seine Art, Schach zu spielen. Jeder kann seinen ganz persönlichen Weg finden. Das ist schon etwas Besonderes. Natürlich gibt es immer ein mehr oder weniger objektives Richtig oder Falsch. Aber man kann sich seinen eigenen Spielstil heraussuchen. Es gibt sehr viele Analysen von Eröffnungen, das entwickelt sich immer weiter. Ich glaube auch nicht, dass man schon alles weiß; man kann immer noch neue Sachen finden. Je mehr man schaut, desto mehr neue Sachen findet man auch. (Lesen Sie auch: 14-jähriger Schach-Star: "Es hat keinen Sinn gemacht, mit meinen Eltern zu spielen")
Sie wurden von den Medien schon als "Schach-Wunderkind", "deutsche Nachwuchshoffnung" oder auch als "bester deutscher Schachspieler" bezeichnet. Wie gehen Sie damit um?
Keymer: Einfach weitermachen wie sonst auch (lacht). Als Schachspieler versucht man immer, sich zu verbessern. Ich denke, fast alle Schachspieler haben hauptsächlich Erwartungen an sich selbst. Wenn ich noch anfange, mich nach Erwartungen anderer zu richten, wird es unheimlich schwer. Die Ansprüche an mich selbst sind schon relativ hoch, weil ich selbst ganz gut einschätzen kann, was ich leisten könnte. Natürlich möchte man das möglichst immer erreichen. Ich zumindest richte mich hauptsächlich nach meinen eigenen Erwartungen.
Sie haben zuletzt beim ersten Turnier der Champions Chess Tour, den Airthings Masters, das Viertelfinale erreicht. Zufrieden?
Keymer: Ja, auf jeden Fall. Es sind sehr viele unglaublich starke Spieler ausgeschieden und haben es nicht in die Top acht geschafft. Dass ich es in die Top acht schaffe, war für mich total unerwartet. Natürlich hätte ich vieles besser machen können, aber trotzdem bin ich insgesamt zufrieden.
Das Turnier wurde über das Internet ausgetragen. Können Online-Spiele das Spiel am Brett ersetzen?
Keymer: Komplett ersetzen nicht. Es ist eine schöne Ergänzung, die sich in Corona-Zeiten etabliert hat. Das ist sicherlich eine gute Sache, aber ich würde nicht sagen, dass man das klassische Schach am Brett dadurch ersetzen kann. Das ist für die meisten Schachspieler der Hauptpunkt und das wird es auch erst mal noch bleiben.
Was fehlt Ihnen bei Online-Spielen?
Keymer: Erst mal gibt es fast nie Online-Turniere mit langen Bedenkzeiten. Hier ist auch der Entertainment-Faktor wichtig. Das hilft sehr dabei, Schach populärer zu machen. Kürzere Bedenkzeiten sind dann natürlich attraktiver, weil es mehr Action gibt. Es passiert schneller mehr. Ansonsten finde ich, ist es schon ein Unterschied, ob man dem Gegner gegenübersitzt oder nicht. Das ist einfach ein anderes Gefühl.
Sie haben sich, im Gegensatz zu vielen anderen Talenten in Ihrer Altersklasse, dazu entschieden, Schach professionell zu betreiben. Mit welchem Gefühl blicken Sie auf Ihre Zukunft?
Keymer: Ich freue mich auf jeden Fall darauf, zu erleben, wie es ist, wenn ich mich voll dem Schach widmen kann. Das hatte ich bisher nie so wirklich – immer nur phasenweise in den Ferien oder wenn ich viele Turniere am Stück hatte. Ich denke, es ist ein ganz anderes Gefühl, wenn man sich total damit vertiefen kann. Ich bin gespannt, aber ich sehe dem positiv entgegen.
Das nächste große Ziel von Vincent Keymer
Haben Sie sich jemals Gedanken darüber gemacht, was passiert, wenn es mit der Profikarriere nicht klappt?
Keymer: Zumindest keine konkreten Ideen. Es ist nicht so, dass ich sage: "Wenn ich kein Schachprofi werde, werde ich dies oder das." So etwas habe ich nicht, nein.
Wie sehen dann Ihre langfristigen Ziele aus?
Keymer: Schwer genau zu sagen. Es gibt weltweit wirklich unglaublich viele gute, junge Spieler. Für einen Zeitraum von vielleicht fünf bis zehn Jahren gibt es nur 12, 13, 14 unterschiedliche Spieler, die überhaupt in die Top Ten der Welt kommen können. Es ist klar, dass es niemals alle schaffen können. Je höher man kommt, desto schwieriger wird es. Das große Ziel ist natürlich Weltklasse, aber das nehme ich mir nicht konkret als Ziel vor. Erst mal probiere ich, die nächste Marke von 2700 Elo zu überschreiten, was auch schon ein großer Schritt wäre. Dann schaue ich mal, wie weit ich komme.
Das ist Vincent Keymer
Vincent Keymer wurde am 15. November 2004 geboren. Er wohnt in Saulheim in der Nähe von Mainz.
Im Alter von 14 Jahren wurde er zum jüngsten deutschen Schach-Großmeister, zwei Jahre später stieg er zur jüngsten Nummer eins der deutschen Schach-Bestenliste auf.
Derzeit steht Keymer bei 2655 Elopunkten – ein Indikator für die Spielstärke von Schachspielern.
Beim anstehenden Grand Prix in Berlin (ab dem 21. März) kann er sich als erster Deutscher seit fast 50 Jahren für das Kandidatenturnier qualifizieren, an dessen Ende der Herausforderer von Schachweltmeister Magnus Carlsen feststeht.