Herr Boenisch, Sie sind einer der führenden Knie-Spezialisten Europas. Es heißt, dass Sie privat gerne mit schnellen Autos unterwegs sind und mit dem Ex-Rallye-Weltmeister Walter Röhrl befreundet sind. Stimmt das?
Ulrich Boenisch: Das ist richtig.
Wie passt das zusammen mit ihrer Arbeit als Mediziner? Es gibt wohl ungefährlichere Hobbies.
Boenisch: Das findet alles auf abgesperrten Strecken statt. Es geht da auch nicht um die beste Zeit, sondern um Fahrtechnik. Natürlich ist man schnell unterwegs, aber das hat nichts mit einem Wettbewerb zu tun. Ich mache das seit etwa zehn Jahren vier- bis fünf Mal im Jahr. Da lernt man ein Auto kennen, kennt die Grenzbereiche – die Autos haben immerhin 540 PS. Diese zwei Tage auf der Strecke sind pure Entspannung. Ich sage immer zu meiner Frau: "Da blase ich mir das Hirn raus und denke an gar nichts". Ich verliere dabei zwei, drei Kilo. Ein Kindheitstraum hat sich damit für mich erfüllt.
Wie kam die Freundschaft zu Walter Röhrl zustande?
Boenisch: Vor 30 Jahren war das. Ich war schon immer autoaffin. Mein damaliger Nachbar hat sich einen Ferrari gekauft. Ich durfte nach Mugello (Anm Red.: Rennstrecke in der Toskana) mitfahren. Und mein Nachbar hat seinen Ferrari zerlegt. Da hat er laut vor sich hingeredet, wie wir denn nach Hause kämen. Röhrl, als Instruktor auf der Strecke tätig, kam mit dem Angebot auf uns zu, bei ihm im Auto mitzufahren. Auf dieser Heimfahrt haben wir uns angefreundet.
Und wenn doch mal was passiert: Haben Sie Ihre Chirurgen-Finger versichert?
Boenisch: Die sind gut versichert. Das habe ich allerdings schon lange vor diesen Fahrten gemacht.
Sie haben viel mit Profi-Fußballern zu tun. Haben Sie selbst auch gespielt?
Boenisch: Allerdings. Für den FC Dingolfing habe ich es bis in die höchste Jugendklasse geschafft, damals war das die Bayernliga. Als wir aufgestiegen sind, durften wir uns die ersten vier Spiele aussuchen. Wir haben uns den FC Bayern, den FC Augsburg, den TSV 1860 München und Schwaben Augsburg in dieser Reihenfolge gewünscht. Ich weiß noch, wie der Mannschaftsbus der Bayern vorgefahren ist: Hansi Dorfner, Michael Rummenigge, große Namen. Die haben uns hoffnungslos unterschätzt und wir, der kleine FC Dingolfing, haben mit 2:1 gewonnen. Die nächsten Spiele haben wir aber dann aber verloren, sind jedoch am Saisonende nicht abgestiegen. Ich habe damals als 10er gespielt – nach vorne war ich gut, für die Defensive hatte ich keine Lust. (lacht)
War denn eine Profi-Laufbahn mal greifbar?
Boenisch: Das war immer der Traum, aber das hat sich nicht ergeben. Ich war körperlich nicht stark genug. Ich habe das Fußballkapitel dann wegen einer komplizierten Sprunggelenksverletzung beendet.
Dafür gelten Sie heute als einer der führenden Knie-Experten. Woher kommt es, dass so viele Spitzensportler sich bei Ihnen behandeln lassen?
Boenisch: Glückliche Umstände - Ich habe mich schon immer für Sport begeistert, vor allem für Fußball und Skifahren. Während meines Studiums in den 80er Jahren war ich ein halbes Jahr auf Hawaii, weil ich windsurfen mit ausländischer Ausbildung vereinen wollte. Dort habe ich einen ehemaligen Abfahrer des amerikanischen Skiteams kennengelernt, der in Colorado ein Skigeschäft betreibt. Von da an bin ich einmal im Jahr zu ihm nach Aspen geflogen, um Ski zu fahren. Sein behandelnder Arzt war der Kniespezialist Dr. Steadman, zu dem damals schon viele Bundesliga-Spieler gekommen sind. Während meiner Facharztausbildung war ich in England und mein damaliger Chef hat mich zum Kniespezialisten Werner Müller ins Bruderholzspital nach Basel vermittelt. Müller war damals der "Steadman Europas", er wurde für mich eine Art väterlicher Freund. Über Müller hat sich die Gelegenheit ergeben, in Amerika bei Steadman eine weitere Spezialausbildung zu bekommen. Und ich war der einzige der Assistenzärzte in Basel, der das amerikanische Examen hatte. Dann bin ich rüber gegangen – und zwar zu Müllers Freund Steadman nach Vail, Colorado. In den Ort, in dem mein Freund von Hawaii ein Skigeschäft betreibt. Somit hat sich dann der Kreis geschlossen. Das war alles andere als geplant, ein großer und glücklicher Zufall.
Steadman war in der 90er Jahren die Referenz für Knieverletzungen. Wenn sich ein Bayern-Spieler am Kreuzband verletzt hatte, ging es zu ihm.
Boenisch: Damit hat sich ein gewisses Netzwerk aufgebaut. Man lernt von solchen Persönlichkeiten. Man lernt den Umgang mit dem klinischen Problem, dem Umfeld, dem Trainerstab, den Managern, den Medien – das gesamte Paket.
Dieses Paket bieten Sie heute an.
Boenisch: Das habe ich so nie geplant. Mir ist es egal, ob ich einen Priester, eine Krankenschwester oder einen Fußballer operiere, jeder Patient ist wichtig. Profisportler machen bei uns auch nur ein Prozent der Patienten aus. Dass sich viele Fußballer bei uns operieren lassen ist eine Ehre – aber da berichten vielleicht die Vereine oder die Spieler darüber. Wir als Hessingpark-Clinic bleiben diskret auch wegen der Schweigepflicht. Wir sind noch nie wie die "Marktschreier" rausgegangen.
Tatsächlich scheinen sich die Vereine auch auf ihre Diskretion verlassen zu können. Mario Götze soll 2013 seinen Medizincheck vor seinem Wechsel von Borussia Dortmund zu Bayern München hier bei Ihnen absolviert haben.
Boenisch: Ist wohl nach so vielen Jahren ein offenes Geheimnis geworden.
Warum ist das nicht in München geschehen?
Boenisch: Wenn er im Umfeld von Bayern München untersucht worden wäre, wäre alles aufgeflogen. Das ist ein gegenseitiges Vertrauen, das sich über Jahre aufgebaut hat. Es war ja ein Transfer-Hammer damals. Als er bei uns untersucht wurde, herrschte höchste Alarmstufe. Wir haben Mützen verteilt, Hintereingänge benutzt, Diskretion pur. Zwei Stunden haben wir hier dafür alles blockiert. Es war ein tolles Erlebnis, auch weil er ein sympathischer, höflicher Kerl ist.
Wie oft kommt es vor, dass sie einen geheimen Medizincheck machen?
Boenisch: Medizinchecks ja, aber in der Regel nicht mit diesem Aufwand. Wenn ein Wechsel ansteht und der Heimatverein das noch gar nicht wissen darf, dann kommen Spieler, um sich hier durchchecken zu lassen. Das brauchen die Vereine, aber auch die Versicherungen um zu wissen, welches Risiko sie mit diesem Spieler eingehen. Aber das ist wirklich keine Routine.
Dass Götze damals zum FC Bayern ging, war ein Transferhammer, der den deutschen Fußball in Aufruhr versetzte. Erzählen Sie so etwas jemanden, ihrer Frau zum Beispiel?
Boenisch: Meine Frau interessiert sich nicht für Fußball (lacht). Aber Diskretion ist bei uns sehr wichtig. Spitzensportler kommen auch zu uns, weil sie ihre Ruhe wollen.
Das Fußball-Jahr 2022 droht zu einer nie gekannten Belastungsprobe zu werden: Kurze Pausen, eine WM in Katar mitten während der Saison. Wie groß ist Ihr Unbehagen, wenn Sie als Mediziner auf dieses Jahr blicken?
Boenisch: Groß. Es ist jetzt schon so, dass Spieler reihenweise Muskelverletzungen haben. In aller Regel ist eine Muskelverletzung ein Ausdruck von Überbeanspruchung. Die Belastungen werden 2022 mindestens genauso groß sein, für die Größen der Spitzenmannschaften kommt noch eine Umdrehung hinzu. Das Hauptproblem ist die fehlende Regeneration. Die großen Klubs haben zwar gute Ersatzleute und rotieren, um der ersten Garde eine Pause zu gönnen. Aber die Top-Spieler wie Haaland oder Lewandowski sind auch für die großen Klubs nicht zu ersetzen.
Wie sehen Sie die WM in Katar? Die findet nicht in der Sommerpause, sondern erstmals im Winter statt.
Boenisch: Für die Spieler bedeutet das eine extrem kurze Anpassungszeit: In der englischen Premier League etwa, in der viele Nationalspieler ihr Geld verdienen, findet das letzte Ligaspiel eine Woche vor WM-Start statt. Das WM-Finale wird am 18. Dezember angepfiffen, am 26. Dezember wird in England weitergespielt. Dazu kommt die Wetterumstellung und die Menge an Spielen, sowie die Reisestrapazen mit Zeitverschiebungen: Die meisten Profis spielen dann seit Mai oder Juni ohne Pause durch. Die Belastung ist enorm.
Wie sehen Sie hier die Verantwortung von Verbänden wie Fifa und Uefa?
Boenisch: Diese Verbände sehen weniger das Einzelschicksal eines Sportlers, sondern den Erfolg eines Verbandes. Und ja: Diese Organisationen gehen fahrlässig mit dem Einzelsportler um. Die Dichte an nationalen und internationalen Turnieren ist einfach viel zu hoch. Die Idee, alle zwei Jahre eine Weltmeisterschaft zu veranstalten, ist für mich deswegen schon völlig indiskutabel. Losgelöst vom medizinischen Aspekt drängt das zudem andere Sportarten in den Hintergrund und entwertet den Reiz einer Weltmeisterschaft. Geld darf nicht alles sein.
Was muss sich denn ändern?
Boenisch: Die Gesinnung Fußball um jeden Preis vermarkten zu müssen, muss sich ändern. Es muss nicht immer schneller, höher und reicher sein. Es reicht auch, den Status mit einer hohen Qualität zu halten . Durch die vielen Turniere wird die Qualität des Sports leiden.
Macht Ihnen Ihr Job noch Spaß, wenn Sie sehen wie unverantwortlich mitunter mit der Gesundheit der Spieler umgegangen wird?
Boenisch: Ich trenne da zwischen dem, was von Fifa und Uefa kommt – und dem Einzelpatienten. Ich lasse mich auch nie davon irritieren, wenn eine Diagnose samt Behandlungsplan den Verantwortlichen eines Vereins nicht passt. Wenn das so ist, stelle ich dem Klub frei, einen anderen Arzt aufzusuchen. Wenn das einer schneller kann, ist er entweder besser als ich oder er ist vielleicht nicht ganz so seriös.
Aber ist das nicht frustrierend – seine Kraft und Expertise auf die Genesung eines Spielers zu verwenden, um dann vom Fernseher aus zu sehen, wie er erneut verheizt wird?
Boenisch: Wenn mir ein Patient sagt, dass sein Verein möchte, dass er schneller wieder fit ist, erinnere ich ihn daran, dass es um seinen eigenen Körper geht und er dafür auch Verantwortung trägt. Ich gebe dem Spieler klar durch, dass mich sein Umfeld nicht interessiert.
Leiden Sie mit, wenn sich einer ihrer Patienten immer wieder verletzt?
Boenisch: Es gibt Spieler, die anfälliger sind. Die muss man gut führen und immer wieder von vorne anfangen. Aber klar: Man kommt auch als Arzt da ins Grübeln, wenn es einen immer wieder erwischt.
Was hat sich in Ihrer Arbeit in den vergangenen Jahren verändert?
Boenisch: Die Präzision, mit der man Diagnosen stellt. Man weiß viel früher, wann ein zwickendes Knie ein Meniskus-Schaden oder ein Kreuzbandriss vorliegt . Deswegen wird das Behandlungsverfahren auch aufwendiger, weil es transparenter wird. Mit der Erstuntersuchung hat man heute eine viel detailliertere Diagnose, was die Behandlung oft aufwendiger aber zielgerichteter gestaltet.
Vor der WM 2014 hätte es kaum noch jemand für möglich gehalten, dass Sami Khedira nach seinem Kreuzbandriss rechtzeitig zum Turnier fit wird. Khedira ließ sich bei Ihnen operieren und wurde in Brasilien Weltmeister. Wie ging das denn?
Boenisch: Sami Khedira ist 24 Stunden am Tag diszipliniert bei der Sache. Das geht bei der Ernährung und dem Umfeld los. Aber diese Gesundung war damals ein Phänomen.
Zum Ende seiner Karriere hatte Khedira aber immer wieder mit Verletzungen zu kämpfen.
Boenisch: Das Knie ist bei einem Profisportler nicht fürs Leben gemacht. Es kommt zu Ermüdungen und es ist wie bei einem Auto, dessen Stoßdämpfer kaputtgehen. Mit dem Unterschied: Wir können keinen neuen Stoßdämpfer für den Sportler kaufen.
Haben Sie sich für einen Patienten besonders gefreut?
Boenisch: Tatsächlich eben für Sami Khedira. Weil dessen ganze Familie so intakt ist. Mutter, Vater, Brüder – das ist eine eingeschworene Gemeinschaft, die füreinander da ist.
Bleibt Ihnen abseits des Sportlichen etwas in Erinnerung?
Boenisch: Ja. Das hat aber vor allem mit unserer Küche zu tun.
Ihrer Küche?
Boenisch: Ja, die wird nicht nur bei den Profis sehr geschätzt. Wir hatten mal einen bekannten Bayern-Spieler zur Behandlung bei uns, der zur Nachspeise immer einen Kaiserschmarrn geordert hatte. Nach einiger Zeit stand das Fadenziehen an. Dazu rief mich der Spieler an und fragte, ob er dafür zu uns kommen kann. Da habe ich mich gewundert und ihn gefragt, warum er das nicht beim Mannschaftsarzt macht. Die Antwort: Er findet den Kaiserschmarrn, den unser Koch hier macht, so gut. Und deswegen würde er gerne wieder zu uns kommen. (lacht) Ein anderer Spieler wollte am Tag vor der OP nichts essen. Und als dann alles vorbei war, hat er sich an drei Tagen hintereinander eine Ente bestellt. Das ist für einen Profisportler nicht unbedingt die klassische Ernährung, aber es scheint ihm geschmeckt zu haben.
In Ihrem Büro sind überall Trikots Ihrer Patienten zu sehen. Man erzählt sich, dass Sie in dieser Hinsicht abergläubisch sind...
Boenisch: Vor zwölf Jahren hat mir ein Spieler – damals in der Bundesliga – direkt nach der Operation sein Trikot geschenkt. Der hat sich dann im ersten Spiel wieder verletzt. Seitdem gibt es bei mir die eiserne Regel: Ich nehme erst ein Trikot an, wenn derjenige auch darin wieder verletzungsfrei gespielt hat. Das hat mir seitdem Glück gebracht.