Sie reisen gerade für eine wissenschaftliche Untersuchung als Sportsoziologin durch Australien und sehen die WM aus einem anderen Blickwinkel, weil Sie überall Leute befragen. Wozu?
CHRISTIANA SCHALLHORN: Frauenfußball ist seit einiger Zeit weltweit im Aufschwung, immer mehr Nationen professionalisieren gerade den Frauenfußball, auch die Medien haben ein größeres Interesse – und viele Fans freuen sich über mehr Sichtbarkeit. Während beim Männerfußball aber länderübergreifend die Bedeutung der Sportart ähnlich ist, zeigen sich beim Frauenfußball große Unterschiede, insbesondere auch durch kulturelle Einflüsse. Wir gehen der Frage nach, wie sich der Frauenfußball vom Männerfußball vor allem hinsichtlich der Fankultur in unterschiedlichen Ländern unterscheidet.
Sie halten den Leuten in Australien einen QR-Code unter die Nase, um einen umfangreichen Fragebogen in Englisch, Spanisch und Deutsch beantworten zu lassen. Wie ist die Resonanz?
SCHALLHORN: Wir haben gemerkt, dass es im Umfeld der Spiele relativ schwierig ist, Fans zum Mitmachen zu gewinnen, weil sie davor und danach andere Interessen haben, als einen Fragebogen auszufüllen. Deswegen sprechen wir die Fans vor allem in der Nähe von Fan-Festen oder Sportbars an, aber auch in der Stadt, in der Bahn, am Flughafen – eben da, wo man mit ihnen ins Gespräch kommt. Je mehr mitmachen, desto besser. Aktuell liegen wir bei 150 Teilnehmer*innen, aber die WM läuft ja noch.
Sie erfragen, ob die Spielerinnen weniger Schauspielerei betreiben oder ob sie Werte wie Vielfalt, Respekt und Offenheit verkörpern. Wird das immer nur behauptet?
SCHALLHORN: Die von uns formulierten Fragen und Aussagen sind erste Ergebnisse einer Vorstudie, bei der wir bereits Fans aus Deutschland und Australien befragt haben. Das wollen wir jetzt mit einer größeren Stichprobe validieren. Wissenschaftlich sind manche Eindrücke schwer zu belegen, dann müsste man beispielsweise genau die Zeit messen, wie lange Männer und Frauen nach Foulspielen liegen bleiben.
Wer sich in den Stadien umsieht, bekommt sofort den Eindruck, dass Vielfalt in der Besucherschaft herrscht.
SCHALLHORN: Ja. Man sieht Familien mit Kindern, junge und ältere Menschen, Frauen wie Männer in den Stadien. Man hat das Gefühl, es ist eine ganz bunte Mischung, die alle das gemeinsame Ziel verfolgen, ihre Spielerinnen zu unterstützen. Es geht ihnen darum, gemeinsam eine schöne Zeit zu haben. Und besonders ist ja auch, dass die Spielerinnen gerne mit den Fans in Kontakt treten und mit sehr vielen Themen offen umgehen.
Auch mit Homosexualität.
SCHALLHORN: Das ist eins von vielen Themen. Die Fankultur beim Frauenfußball betrachtet sich auch unter anderem deshalb als sehr inklusiv, weil jede*r unabhängig vom Geschlecht und der sexuellen Orientierung willkommen ist. Das hat man beim Männerfußball meist nicht, wo beispielsweise Homosexualität bei Spielern und Fans oft noch ein Tabuthema ist. Im Frauenfußball ist das anders. Die meisten Fußballerinnen gehen offen mit ihrer Sexualität um. Fans, die sich der LGBTQ+-Gemeinschaft zugehörig fühlen, schätzen es, einen Sport zu haben, bei dem sie sich unabhängig von der sexuellen Orientierung und ihres Geschlechts akzeptiert fühlen.
Bei einigen WM-Spielen war die Stimmung gar nicht mehr viel anders als bei den Männern, wenn beispielsweise Kolumbien gespielt hat. Im Fragebogen taucht dazu der Begriff „toxische Männlichkeit“ auf. Warum?
SCHALLHORN: Diese Bezeichnung wurde in unserer Vorstudie von vielen Befragten verwendet. Toxische Männlichkeit meint hier ein sehr dominantes, aggressives bis hin zu gewalthaltiges Verhalten, was als typisch „männlich“ empfunden wird, aber natürlich auch von Frauen ausgelebt werden kann. Das Verhalten der kolumbianischen Fans muss man davon differenzieren. Das ist in deren Fankultur normal und ein Zeichen guter Unterhaltung und keineswegs mit Aggressivität gleichzusetzen. Pfiffe und Buhrufe sind in Südamerika oft nur Teil der Unterhaltung.
Wie nehmen Sie persönlich die WM wahr?
SCHALLHORN: Ich war hier erst ein bisschen enttäuscht, dass außerhalb der Stadien und Fanmeilen relativ wenig Stimmung war. Das liegt auch daran, dass nur die Spiele der Matildas, der australischen Fußballerinnen, im frei empfangbaren Fernsehen laufen. Die anderen Spiele sind nur in einem Bezahl-Streamingdienst zu sehen und deshalb haben wahrscheinlich viele Australier*innen anfangs eher wenig von der WM mitbekommen.
Der Fußball steht eben in beiden Gastgeberländern nicht an erster Stelle, sondern Rugby. Lag es daran?
SCHALLHORN: Jein. Die Nationalsportarten sind andere, aber die fehlende Sichtbarkeit ist für mich Kardinalproblem. Was nicht gezeigt wird, ist im Bewusstsein nicht vorhanden. Stellen wir uns doch nur vor, ARD und ZDF hätten die WM nicht in Deutschland übertragen. Dann wäre das Interesse sicher deutlich geringer gewesen. Jetzt haben die Australierinnen aber mit dem Einzug ins Viertelfinale ganz viel angestoßen: Sam Kerr ist ein Superstar auf diesem Kontinent. Man bekommt mit, dass viele Mädchen sie bewundern, ihr nacheifern wollen. Solche Identifikationsfiguren sind ganz wichtig. Gerade Mädchen brauchen im Fußball solche Vorbilder, um mit alten Stereotypen zu brechen. Insofern haben die Matildas viel erreicht.
Wie erklären Sie die Tatsache, dass der Frauenfußball in den Ländern so einen unterschiedlichen Stellenwert hat?
SCHALLHORN: Das hängt natürlich viel mit der kulturellen Bedeutung des Sports und insbesondere des Fußballs zusammen. Aus meiner Sicht wird Fußball auch in Deutschland von vielen immer noch klassisch als Männersport betrachtet, während Australien eher vom „beautiful game“, vom schönen Spiel spricht. Hier ist Fußball fast schon weiblich konnotiert. In Australien ist der Frauenfußball populärer als der Männerfußball. In den USA sind die Frauen auch deutlich erfolgreicher als die Männer im Fußball. In den arabischen Ländern war und ist es mitunter immer noch schwierig, wenn Mädchen Fußball spielen wollen. Es gibt also Diskrepanzen beim Zugang zu diesem Sport.
Auffällig ist, dass sich in Deutschland die Sportwissenschaft, Sportmedizin oder Sportsoziologie eher wenig mit Frauenfußball beschäftigt hat. Sie beackern gerade unerforschtes Gebiet.
SCHALLHORN: Wir sprechen tatsächlich diesbezüglich von einer Datenlücke. Auch die Wissenschaft interessiert sich in erster Linie für Männersport. Aber das wandelt sich. Sowohl in der Gesellschaft als auch in der Wissenschaft steigt das Interesse am Frauensport. Mittlerweile wird im Zuge vieler Debatten, Stichwort Equal Pay, Chancengleichheit und Gleichberechtigung, erkannt, dass der Sport Anstöße für Veränderungen in der Gesellschaft geben kann. Deswegen brauchen wir Forschung zu Frauensport, dessen Fans und Fankultur.
Wird das frühe Ausscheiden der deutschen Mannschaft vielleicht dafür sorgen, dass der angestoßene Boom mit der EM in England jetzt abflaut?
SCHALLHORN: Ich glaube nicht an einen negativen Effekt für den deutschen Frauenfußball trotz des unerwartet frühen Ausscheidens. Fans halten auch in Krisen zu ihren Spielerinnen und Vereinen. Aber ich gehe davon aus, dass das Potenzial, das durch die WM vorhanden war, um beispielsweise für den Frauenfußball zu werben und Menschen in Deutschland dafür zu begeistern, nicht genutzt werden konnte.
Zur Person
Christiana Schallhorn, 39, ist Junior-Professorin für Sportsoziologie an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Aktuell führt sie bei der WM in den australischen Spielorten Sydney und Melbourne eine Befragung durch, um herauszufinden, welchen Stellenwert der Frauenfußball in verschiedenen Ländern hat. Seit Jahren forscht sie zur Berichterstattung von Sportgroßereignissen und deren Wirkung bei Rezipierenden.