Gina Lückenkemper, Ihre Karriere unterteilt sich in zwei Abschnitte: die Zeit vor 2022, oder besser gesagt der EM in München, und die danach. Sie gelten inzwischen neben Malaika Mihambo und Niklas Kaul als das Gesicht der deutschen Leichtathletik. Was hat sich aus Ihrer Sicht verändert?
Gina Lückenkemper: Das klingt komisch, aber: nichts! Ich bin immer noch dieselbe und fühle mich auch nicht anders als zuvor. Dass ich als Sportlerin des Jahres ausgezeichnet wurde, habe ich als sehr große Ehre empfunden, vor allem, weil 2022 ein unglaublich intensives Sportjahr war. Aber sonst ist alles noch genauso wie vorher.
Dennoch war München ein einschneidendes Erlebnis. Jeder, der Sie im Stadion beobachtete, sah diesen Tunnelblick, immer wieder unterbrochen von einem Lächeln. Eine Mischung aus Entschlossenheit und Vorfreude.
Lückenkemper: Genau so war es! Wobei wir nach dem Halbfinale sogar überlegt hatten, ob ich zum Endlauf überhaupt antreten soll, weil ich eine Muskelverhärtung gespürt habe. Aber spätestens als ich vor dem Finale den Callroom betreten habe, war mir klar, dass ich unbedingt vorne mitmischen möchte. Und dann diese Atmosphäre im Olympiastadion: Ich habe jeden einzelnen Moment aufgesogen wie ein Schwamm. Und weil ich sowieso ein Emotionsbiest bin, habe ich aus den Reaktionen des Publikums unglaublich viel Kraft gezogen. Es gab diesen Moment, als wir einzeln mit einer Lightshow vorgestellt wurden. Das war der letzte Kick für mich, mein Puls ist gestiegen. Aber wenn ich mir die Aufzeichnung ansehe, wie ich dann in den Block steige, mit diesem Blick, da bekomme ich es selbst heute noch mit der Angst zu tun (lacht). So etwas habe ich vorher und nachher nie erlebt. Gleichzeitig aber habe ich alles um mich herum wahrgenommen, ich kann mich an jede einzelne Sekunde erinnern. Das bleibt. Im Vergleich dazu die EM 2018 in Berlin, wo ich ja Silber gewonnen habe: Kompletter Filmriss bis ins Ziel. Damals fehlte mir einfach noch die Erfahrung.
Ihr Sturz im Ziel, die hauchdünne Entscheidung – das war Drama pur. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie Ihren Namen auf der Anzeigetafel gesehen haben?
Lückenkemper: Mir wurde bewusst, dass ich gewonnen hatte, als die Leute auf den Rängen ausgeflippt sind. Die wären bei einem Sieg von Mujinga Kambundji (der Schweizer Silbermedaillengewinnerin, Anm. d. Red.) sicher nicht dermaßen krass abgegangen. Erst danach habe ich mich zur Anzeigetafel umgedreht. In dem Moment hat alles bei mir ausgesetzt, weil ich mit diesem Ausgang wirklich nie und nimmer gerechnet hatte.
Sie hatten sich beim Zielsturz auch noch mit Ihren Spikes verletzt. Wie schwer war die Verletzung?
Lückenkemper: Mit acht Stichen genäht zu werden, das spricht eigentlich für sich. Andere hätten sich mit so etwas wahrscheinlich krankgemeldet. Ich habe mich fünf Tage später wieder auf die Bahn gestellt und bin Staffel gerannt, weil ich von dieser Wahnsinnsatmosphäre nicht genug bekommen konnte. Adrenalin ist schon etwas Wundervolles, denn ich hatte keine Schmerzen, obwohl es wirklich übel aussah. Das war nicht nur ein oberflächlicher Kratzer. Aber ich hatte Glück: Der Schnitt ging zwar tief in die Haut, doch der Muskel blieb ganz knapp unversehrt.
Wie kompliziert war es danach, wieder runterzukommen?
Lückenkemper: Das Allerbeste was mir passieren konnte, war, im November zu meiner Trainingsgruppe nach Clermont/Florida zu fliegen und zu sagen: Tschüss, ich bin dann mal weg. Unmittelbar nach den Europameisterschaften wollte jeder etwas von mir. Und so gerne ich immer wieder diese Geschichten erzähle, blieb in diesem Moment null Zeit, um mich zurückzuziehen und mir klarzuwerden, was da passiert ist. Florida, das ist Alltag für mich, da kommt Ruhe rein, durch die sechs Stunden Zeitunterschied bin ich auch telefonisch nicht auf Anhieb erreichbar. Ich kann mich voll auf mein Training konzentrieren und mich ohne Druck mit all den Dingen, die passiert sind, auseinandersetzen. Dabei haben mir nicht zuletzt meine Trainingskollegen geholfen, die das Ganze sehr locker, aber auch respektvoll nahmen und mich mit den Worten begrüßten: "Hey, the European Champ is back!" Ich habe da zum Beispiel neben dem 400-Meter-Weltrekordler Wayde van Niekerk über 20 Meter Sprintübungen gemacht, er hat mich natürlich abzogen, im Ziel die Arme hochgerissen und gerufen: "I have beaten the European Champ!" Ich mag das wirklich, das erdet einen ungemein.
Was ist das Besondere an der Florida-Trainingsgruppe und Ihrem Trainer Lance Brauman? Dort sind Sie ja nur eine unter vielen.
Lückenkemper: Genau darum geht es! Ich lerne dort unfassbar viel! Ich habe die Möglichkeit, gemeinsam mit Olympiasiegern und Weltrekordlern zu trainieren, mit ihnen Zeit zu verbringen, mit ihnen zu sprechen. Das Faszinierende ist, festzustellen, dass solche Athleten exakt dieselben Probleme wie ich haben, an manchen Trainingseinheiten schier verzweifeln – genau wie ich – und dass es eben auch nur Menschen sind und keine Maschinen. Der Unterschied zu anderen liegt darin, dass sie alle neben Talent über einen unfassbaren Willen verfügen, in jedem Training leidenschaftlich kämpfen und einem Dinge erklären können, die man bislang nicht verstanden hat. Lance wollte zum Beispiel in den vergangenen Monaten immer wieder ein bestimmtes Bewegungsgefühl von mir sehen, aber ich bin da irgendwie nicht rangekommen. Dann kann ich zu Noah Lyles, dem 200-Meter-Weltmeister, gehen und ihn fragen: Hey Noah, wie machst du das? Und wenn er anfängt zu erklären, weiß ich plötzlich, wie es geht. Ich profitiere bei so vielen Dingen von dieser tollen Trainingsgruppe!
Wäre so etwas auch in Deutschland möglich?
Lückenkemper: Leider nicht. Die Trainer des Deutschen Leichtathletik-Verbandes dürfen aktuell keine internationalen Athleten trainieren – ganz im Gegensatz zu Niederländern, Schweizern oder Trainern in anderen Ländern. Das wirkt sich auf die gesamte Trainingslandschaft aus. Wir hemmen uns selbst damit, denn von ausländischen Sportlern könnten wir in so vielen Bereichen profitieren. Sie sind überall eine Bereicherung.
Gibt es eigentlich den perfekten 100-Meter-Sprint?
Lückenkemper: Darüber mache ich mir schon lange Gedanken und diskutiere dieses Thema häufig mit anderen Sprintern, mit meiner Kollegin und Freundin Rebekka Haase und mit Lance Brauman. Dabei habe ich aber niemanden gefunden, der anderer Meinung ist als ich: Nein, es gibt ihn nicht, den perfekten Sprint! Selbst bei einem Weltrekord finden sich noch Kleinigkeiten, die man verbessern hätte können. Wayde van Niekerk war mit seinen 43,03 Sekunden nahe dran an der Perfektion über 400 Meter, aber es war immer noch nicht zu 100 Prozent perfekt.
Was ist das für ein Gefühl, wenn es in Richtung Perfektion geht?
Lückenkemper: Wie Fliegen. Man spürt, dass man unfassbar schnell ist, aber es fühlt sich leicht an, fast schwerelos. Hinterher im Ziel merkt man schon, dass man etwas getan hat, aber im Lauf selbst denkt man, man würde abheben.
Leichtathletik kann faszinierend sein. Warum nehmen das die Menschen nur bei Olympischen Spielen, Welt- oder Europameisterschaften zur Kenntnis? In der öffentlichen Wahrnehmung kommt die Leichtathletik oft hinter anderen Sportarten. Woran liegt das? Zu wenig Neuerungen, zu viel Ballast, zu viel Tradition?
Lückenkemper: Wir brauchen tatsächlich mehr Gesichter wie Malaika, Niklas oder vielleicht mich, früher natürlich Robert Harting. Denn dieser Sport ist so vielfältig und hat so unfassbar viel zu bieten. Es würde uns guttun, wenn wir mehr im Free-TV zu sehen wären, nicht nur bei Meisterschaften. Dafür müsste sich die Leichtathletik aber auch mal selbst auf den Prüfstand stellen. Wenn wir mehr Öffentlichkeit haben wollen, dann sollten wir darüber nachdenken, wie wir attraktiver werden können. Unsere Veranstaltungen dauern einfach zu lange, häufig über den ganzen Tag. Das ist nicht mehr sexy, gerade in dieser schnelllebigen Zeit. Früher mag das funktioniert haben, heute aber nicht mehr. In der Hallensaison gibt schon den einen oder anderen guten Ansatz mit kurzen, kompakten Programmen. Im Sommer hingegen fällt uns das noch schwer, weil die Veranstalter ungern Disziplinen weglassen oder es bei Deutschen Meisterschaften ja gar nicht möglich ist. Aber daran führt kein Weg vorbei, wenn wir weiter Aufmerksamkeit generieren wollen. Es gibt ja schon eigene tolle Spezialwettkämpfe für Sprinter, Läufer, Springer oder Werfer.
Nächstes Wochenende stehen die Deutschen Leichtathletikmeisterschaft in Kassel an. Dann gibt es im August die WM in Budapest, 2024 die Olympischen Spiele in Paris. Dort sind Sie inzwischen überall zumindest Mitfavoritin. Wie lauten Ihre Ziele?
Lückenkemper: Mitfavoritin ist bei Welt- oder Europameisterschaften vielleicht etwas zu hoch gegriffen. Aber mit der WM habe ich noch eine Rechnung offen, weil im vergangenen Jahr in Eugene für mich im Halbfinale Schluss war. Das Niveau im Frauensprint ist so krass geworden, aber ich habe mich vor allem in diesem Jahr ebenfalls verbessert. Ja, ich will in Budapest ins Einzelfinale! Und wenn ich dann drin bin, ist vieles möglich. Und Paris, doch, da hätte ich richtig Bock drauf, in einem olympischen Endlauf zu stehen.
Es hat sich noch nicht überall herumgesprochen, dass Sie seit einiger Zeit quasi eine halbe Bayerin sind…
Lückenkemper: …Korrektur: eine Fränkin!
Gut, einverstanden. Sie leben zusammen mit Ihrem Freund in Bamberg und haben im vergangenen Jahr auch den bayerischen Sportpreis aus den Händen von Innenminister Joachim Hermann bekommen. Wie gefällt es Ihnen im Freistaat?
Lückenkemper: Ich bin wirklich außerordentlich gerne hier, weil ich die Landschaft und die Menschen hier sehr liebe. In Westfalen, wo ich ursprünglich herkomme, da gibt es weniger Natur und keine Berge. Deshalb hatte ich früher nur wenig damit am Hut. Ich finde die Gegend an der Regnitz, die alten Häuser unfassbar schön. In Kürze kommt auch mein Pferd hierher, dann kann ich die Natur noch viel intensiver genießen.