Herr Kienle, im Mai sind Sie bei einem Radrennen schwer gestürzt und haben sich mehrere Knochenbrüche zugezogen. Wie geht es Ihnen?
SEBASTIAN KIENLE: Letzten Endes hatte ich großes Glück, insgesamt ist alles wieder gut verheilt. Ein paar kleinere Problemchen habe ich noch mit meiner linken Schulter, aber zum Glück muss ich ja nicht mehr schwimmen, deshalb ist das nicht allzu schlimm.
Am kommenden Wochenende findet auf Hawaii die Ironman-WM statt. Welche Gefühle weckt das bei Ihnen?
KIENLE: Wehmut, Vorfreude, Anspannung - von allem ein bisschen, je nachdem, in welchem Zusammenhang man an das Rennen denkt. Ich bin dieses Jahr als Experte für das ZDF tätig. Das Rennen und die Konkurrenz beschäftigen mich also ein bisschen mehr. Deswegen ist auf jeden Fall eine Vorfreude da, weil es einfach ein echt tolles, spannendes Rennen geben wird. Wehmut ist auch ganz klar da, weil es mir die Timeline mit lauter schönen Kona-Bildern flutet. Der Algorithmus scheint ganz gut zu wissen, was mich emotional anspricht. Leider bin ich dieses Jahr nicht vor Ort. Es ist schon ein bisschen verrückt, dass ich bei der letzten Austragung der Männer in Kona 2022 noch selbst dabei war. Fühlt sich an, als wenn es schon deutlich länger her wäre.
Zumal Sie damals in Topform waren und Ihre persönliche Bestzeit aufstellten.
KIENLE: Ja, aber Leistungen in Hawaii kann man nicht an Zeiten festmachen. Da zählt primär die Platzierung, weil die Bedingungen eine extrem große Rolle spielen, wenn man über Zeiten spricht. 2022 waren die Bedingungen schnell. Ich würde nicht sagen, dass es meine beste Leistung auf Hawaii war. Aber dass man als ehemaliger Hawaii-Sieger mit seiner schnellsten Zeit „nur“ Sechster wird, sagt viel über die Entwicklung im Triathlon aus. Und es zeigt mir, dass ich mit Sicherheit den richtigen Zeitpunkt gefunden habe, dem Sport Goodbye zu sagen.
Sie sagen, 2022 sei nicht Ihr bestes WM-Rennen gewesen. Das dürfte dann wohl eher 2014 gewesen sein, als Sie gewannen. Was schießt Ihnen als Erstes durch den Kopf, wenn Sie auf den größten Sieg in Ihrer Karriere angesprochen werden?
KIENLE: Es wird einem dann erst so wirklich bewusst, was der Hawaii-Sieg wert ist. Weil man ein Leben lang Hawaii-Sieger bleibt. So wird man überall vorgestellt. Es gibt andere Rennen in dem Sport, die auch wichtig sind. Aber ein Sieg dort bleibt meist nur für ein Jahr. Der Hawaii-Sieg bleibt. Das Zweite ist natürlich, dass man sich daran erinnert, wie extrem nah in diesem Sport die Höhen und Tiefen beieinander liegen. Das merkt man tatsächlich erst, wenn man dieses wahnsinnige Auf und Ab nicht mehr in dem gleichen Umfang hat. Zwei Wochen vor dem Rennen habe ich damals gedacht, dass ich gar nicht starten sollte, weil ich mich einfach nicht gut gefühlt habe, nicht fit genug war. Ich hatte damals über zehn, zwölf Tage massive Schlafprobleme und war kurz davor, wieder abzureisen - und dann gewinne ich das Rennen. Das gibt es nur in dem absoluten Spitzenleistungssport. Andersherum geht es natürlich genauso. Wir haben Anne Haug gesehen, die bei der WM in Nizza den Platten hat. Man investiert ja nicht nur ein Jahr, sondern trainiert eigentlich sein ganzes Leben lang auf die Events hin. Und dann gibt es eben oft nur einmal die Chance, das auch wirklich zu zeigen. Das macht den Hawaii-Sieg so wertvoll, weil es andere Athleten gab, die sicher besser und talentierter waren als ich, aber nie diesen Hawaii-Sieg geholt haben.
Ist Hawaii, sprich Kona, also ein Sehnsuchtsort für Sie? Oder eher ein Ort, an dem Sie gleich mehrfach durch die sportliche Hölle gegangen sind?
KIENLE: Es ist schon ein Sehnsuchtsort - zu dem man aber nur durch die Hölle gelangt. Es ist mitnichten so, dass ich ein Masochist bin und es liebe, mich ständig selbst zu geißeln. Es ist eher das Gegenteil der Fall. Ich liebe es, mittags auf dem schönen warmen Sofa zu liegen, mit einer heißen Schokolade oder einem Cappuccino. Ich bin per se erst einmal ein fauler Mensch. Aber diesen Komfort kann man vor allem dann genießen, wenn man vorher aus der Komfortzone rausgegangen ist. Das Essen schmeckt am besten, wenn man Hunger hat. Und das Bett ist ein bisschen weicher, wenn man müde ist. Das Gleiche gilt für mich in Hawaii auch. Ich habe immer probiert, nach dem Rennen noch ein bisschen dazubleiben und Hawaii auch anders genießen zu können. Wirklich genossen habe ich Hawaii vorzugsweise nach dem Rennen, weil man durch die Hölle hingekommen ist.
Sie fahren Radrennen und haben Hyrox (Indoor-Wettbewerb, der als Parcours aufgebaut ist) für sich entdeckt, sind also sportlich unterwegs. Trotzdem ist es kein Profisport mehr. Haben Sie sich mit diesem neuen Leben schon angefreundet?
KIENLE: Jein, würde ich sagen. Insgesamt habe ich es mit dem Zeitpunkt aufzuhören schon richtig gemacht. Da würde ich nichts anders machen. Aber natürlich ist dieses berühmte Mindset, das man sich antrainiert hat, nichts, was man einfach so an- und ausschalten kann. Es ist nach wie vor so, dass ich das Gefühl habe, es ist zu wenig, wenn ich nur eine Trainingseinheit am Tag gemacht habe. Oder wenn es in einer geselligen Runde ein Glas Wein gibt, ist es nicht so, dass ich nicht darüber nachdenke. Es ist schon noch immer erst die Frage: Was habe ich denn morgen auf dem Trainingsplan? Wann ist denn das nächste Rennen? Und: Das Glas ist schon ganz ordentlich eingeschenkt, oder? Diesen Mechanismus auszuschalten, funktioniert nicht so schnell. Außerdem mag ich es unheimlich, von körperlicher Anstrengung müde zu sein. Das ist ein ganz anderes Gefühl, als von geistiger Arbeit müde zu sein. Wenn man ersteres gewohnt ist, will man das nicht missen. Deswegen kann ich natürlich nicht einfach komplett aufhören. Gleichzeitig muss ich mir andere Ziele suchen und setzen. Man hat natürlich auch immer noch die Idee, ein absoluter Welt-Spitzensportler zu sein. Und egal, was man macht, es geht immer ganz schnell, dass man einen wahnsinnigen Anspruch hat. Das kann man nicht so einfach ablegen. Aber insgesamt passt das schon ganz gut.
Zurück zum anstehenden Rennen auf Hawaii: Wer ist Ihr Favorit auf den WM-Titel?
KIENLE: Das ist tatsächlich nicht einfach, aber ich würde schon sagen, dass Kristian Blummenfelt nach der Leistung von Frankfurt in einer etwas favorisierten Position ist. Das Rennen von Magnus Ditlev in Roth war aber mindestens genauso eindrucksvoll. Sam Laidlow ist in deutlich besserer Form als jemals zuvor im Vorfeld von Weltmeisterschaften. Gustav Iden hatte eineinhalb Seuchenjahre, hat in den vergangenen Wochen aber ein Momentum aufgebaut. Und er ist eben der Defending Champion auf Hawaii. Das wären die drei plus eins, die ich herausheben würde.
Und aus deutscher Sicht?
KIENLE: Auch wenn Patrick Lange zuletzt Schwierigkeiten hatte, ist seine Quote auf Hawaii extrem gut. Ihm liegt das Rennen. Ich würde ihn da auf gar keinen Fall unterschätzen. Es wäre absolut keine Überraschung, wenn wir noch mal einen deutschen Hawaii-Sieger hätten.
Sie haben es schon angedeutet: Der Triathlonsport entwickelt sich rasant weiter, die Zeiten werden immer schneller. Woran liegt das?
KIENLE: Das hat viele verschiedene Faktoren. Der Sport insgesamt ist immer noch verhältnismäßig jung. Triathlon ist zudem ein sehr technischer Sport in dem Sinn, dass es einer Ausrüstung bedarf. Wenn man 30 Jahre in der Formel 1 zurückgeht, sieht man auch, wie extrem sich dort alles weiterentwickelt hat. Natürlich zählt schon immer noch primär die körperliche Leistungsfähigkeit. Aber es gibt viele technische Entwicklungen, von denen die Athleten wahnsinnig profitieren. Beim Radfahren ist es am frappierendsten. Beim Laufen profitieren Triathleten von den neuen Carbon-Schuhen fast noch mehr als die reinen Läufer, weil wir oft ein bisschen schwerer sind. Ich habe meinen Titel noch auf flachen harten Schuhen gewonnen und dann die ganze Entwicklung mitgemacht. Dann ist es aber auch ganz klar so, dass Triathlon zum Beispiel in den USA College-Sport ist. Das heißt, der Talent-Pool wird viel größer. Und natürlich ist inzwischen viel mehr Geld in dem Sport. Es gibt die T100-Serie. Als Top-Athlet kann man pro Jahr allein schon eine Million Dollar an Preisgeld einnehmen, wenn man auf allen Hochzeiten tanzt. Das macht es dann schon einfacher, diesen Sport als Profi auszuüben. Dadurch ist aber auch die Konkurrenz größer und härter.
Macht das den Triathlonsport aber nicht auch anfälliger für Doping?
KIENLE: Es ist nicht per se so, dass man sagen kann: Je mehr Geld bezahlt wird, desto mehr wird betrogen. Es wird ja auch im Amateurbereich gedopt, wo es gar kein Geld gibt. Der größte Anreiz ist dann doch meistens Ehre und Ruhm. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass der Triathlonsport sehr gut aufgestellt ist, was den Anti-Dopingkampf angeht - vor allem in Deutschland. In meinen Top-Zeiten bin ich teilweise über zwanzigmal außerhalb von Wettkämpfen getestet worden. Mit den Wettkampfkontrollen sind das über 30 im Jahr, was schon gut ist. International muss man bei einigen Ländern vielleicht minimale Abstriche machen. Und es wäre natürlich wünschenswert, dass die Institutionen, die Geld in den Sport stecken, um attraktiven Sport zu bieten, einen Teil davon auch in den Anti-Dopingkampf investieren. Das sehe ich nicht überall.
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