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Interview: Fußball-Historiker startet Katar-Boykott: "Eine rote Linie ist überschritten"

Interview

Fußball-Historiker startet Katar-Boykott: "Eine rote Linie ist überschritten"

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    Im November und Dezember findet die Fußball-WM in Katar statt. Eine Initiative will nun einen Boykott bewirken.
    Im November und Dezember findet die Fußball-WM in Katar statt. Eine Initiative will nun einen Boykott bewirken. Foto: Darko Bandic, dpa

    Herr Schulze-Marmeling, wissen Sie, ob Fifa-Präsident Infantino ihr Buch "Boykotiert Katar" schon gelesen hat?

    Dietrich Schulze-Marmeling: Nein, leider nicht. Die Kritik an seiner Person dürfte ihm bekannt sein. Aber ich habe den Eindruck, dass Leute wie er und sein Vorgänger Sepp Blatter ohnehin in einer völlig anderen Welt leben. An denen prallt so etwas ab. Nur wenn Sponsoren Druck machen, gibt es eine Reaktion. Aber Herr Infantino dürfte sich wenig Gedanken um sein Image machen. Das zeigt ja auch, dass er nun nach Doha gezogen ist.

    Fifa-Präsident Gianni Infantino spricht auf einer Pressekonferenz nach dem Fifa-Kongress.
    Fifa-Präsident Gianni Infantino spricht auf einer Pressekonferenz nach dem Fifa-Kongress. Foto: Christian Charisius, dpa

    Der ehemalige Bundesliga-Manager Andreas Rettig hat Infantino zu seinem Geburtstag angeboten, ihm ein Exemplar des Buches zu beschaffen, sofern er den Code "Menschenrechte braucht kein Mensch" in den Online-Shop eingibt.

    Schulze-Marmeling: Ich weiß nicht, ob er es abgerufen hat. Aber das war eine ganz nette Aktion von Andreas Rettig. Da ging es ja nicht darum, Infantino zu bekehren, sondern darum, Aufmerksamkeit für das, was im Fußball schief läuft, zu erzeugen. Und das verkörpert niemand so exzellent wie Infantino.

    Statt im Sommer findet das WM-Finale diesmal am vierten Advent statt. Nicht das einzige, was an dieser WM gewöhnungsbedürftig ist, oder?

    Schulze-Marmeling: Dass die WM jetzt genau dann stattfinden muss, wenn bei uns Sommer ist, empfand ich jetzt nie als das entscheidende Argument. Für die Spieler ist das natürlich schlecht, weil die WM während der laufenden Saison über die Bühne geht. An der Jahreszeit und der fehlenden Fußball-Tradition in Katar entzündet sich immer noch viel Kritik, für mich war die Situation der Menschenrechte aber schon immer bestimmender.

    Vor einem Jahr haben Sie mit Bernd M. Beyer das Buch "Boykottiert Katar" herausgegeben, das Teil einer Aktion ist, die WM in dem Emirat zu boykottieren. Wie kam es dazu?

    Schulze-Marmeling: Eigentlich hatte ich schon bei der WM-Vergabe im Jahr 2010 das Gefühl, dass eine rote Linie in mehrfacher Hinsicht überschritten wurde. In anderer Hinsicht war es eine logische Entwicklung, wenn man sich die Kriterien für die WM-Vergaben und die Expansionsinteressen in den arabischen Raum hinein ansieht. Im Herbst 2020 haben wir überlegt, diese Initiative zu starten, an deren Spitze dieses Buch steht. Der Untertitel lautet "Warum wir die Fifa stoppen müssen". Es geht nicht nur um das Austragungsland, sondern auch um die Fifa und all ihre Defizite, die eine WM in Katar erst ermöglichten. Als Erfolg würde ich es verbuchen, dass dank unserer Initiative intensiver über die Verhältnisse in Katar diskutiert wird.

    Das Turnier als solches wird sich nicht mehr verhindern lassen. Sie rufen – etwa auf der Seite boycott-qatar.de – dazu auf, öffentlichen Protest kundzutun, auf das Kaufen von Produkten mit einem WM-Logo und auf Reisen nach Katar zu verzichten.

    Schulze-Marmeling: Es ist ein Fan-Boykott, zu dem wir aufrufen. Wir erwarten nicht, dass der DFB und andere große Verbände dem Turnier fern bleiben, das ist jetzt auch zu spät dafür. Wir erleben aber, dass es sehr viele Anfragen dazu gibt – und dass viele Vereinsfans zu uns sagen: Richtig, was ihr macht. Aber mit der Fifa, der Nationalmannschaft und vor allem mit dieser WM habe ich ohnehin schon lange abgeschlossen. Klar gibt es viele, die das anders sehen und die WM wie immer verfolgen werden.

    Katar steht international immer wieder wegen der Ausbeutung von Arbeitern in der Kritik.
    Katar steht international immer wieder wegen der Ausbeutung von Arbeitern in der Kritik. Foto: Str/EPA, dpa (Archivbild)

    Wie läuft die Aktion bisher?

    Schulze-Marmeling: Es läuft wellenförmig ab. Meine Prognose war immer, dass das Interesse daran erst nach dem Sommer 2022 richtig ansteigen wird. Wir hatten jedoch einen ersten Hype, der uns überrascht hat, im Frühjahr 2021. Damals ist der FC Bayern im Finale der Klub-WM in Doha angetreten. Da gab es ja den Ärger, weil die Maschine der Bayern in Berlin ein Flugverbot erhalten hatte und die Vereinsführung das nicht akzeptieren wollte. Rummenigge und Co. sahen die Grundrechte verletzt – nicht in Doha, sondern auf dem Berliner Flughafen. Dann gab es Nachrichten, dass sich norwegische Profi-Klubs für einen Boykott aussprachen – ein Novum. Schließlich kam in diese Zeit auch noch die Meldung des Guardian, wonach 6500 Gastarbeiter beim Bau der Stadien ums Leben gekommen sind. Das hat die Aufmerksamkeit schon auf uns gelenkt.

    Lise Klaveness, Präsidentin des Norwegischen Fußballverbands, spricht während der Eröffnung des 72. FIFA-Kongresses.
    Lise Klaveness, Präsidentin des Norwegischen Fußballverbands, spricht während der Eröffnung des 72. FIFA-Kongresses. Foto: Nick Potts/PA Wire, dpa

    Die großen Fußballverbände der Welt halten sich meist bedeckt, nur das kleine Norwegen ist beim jüngsten Kongress vorgeprescht. Warum tun sich die Verbände so schwer damit, die FIFA und Präsident Infantino zu kritisieren?

    Schulze-Marmeling: Gute Frage. Die Fifa scheint als Fußball-Regierung eine derartige Macht zu haben, dass selbst große Verbände kuschen. Dabei würde es, wenn die großen europäischen Verbände sagen, dass sie nicht mehr mitmachen, schwierig für Herrn Infantino werden. Zu einem gewissen Grad sind diese Verbände ja auch Teil eines politischen und wirtschaftlichen Systems. Was in Deutschland jetzt noch eine Rolle spielen könnte, dass Katar ein wichtiger Investor ist – etwa bei VW, Deutsche Bank und Siemens. Es gab immer eine Katar-Lobby um Siegmar Gabriel und Christian Wulff. Dass man bei Ländern, mit denen man Wirtschaftsbeziehungen unterhält, die Verhältnisse schönredet, ist ein Muster, das nicht neu ist.

    Ihr Buch ist neben dem Aufruf zum Boykott auch eine Art Negativ-Reiseführer für Katar. Es geht um die Repressionen für Homosexuelle, die eingeschränkten Rechte von Frauen und die Lage für die Menschenrechte im allgemeinen. Wie viel von dem wird während der WM zu sehen sein?

    Schulze-Marmeling: Ich denke, relativ wenig. Man wird eine vierwöchige Schein-Demokratie ausrufen, speziell für ausländische Gäste. Man wird schicke, komfortable Stadien und freundliche Menschen sehen. Den 300.000 Menschen, die Staatsbürger von Katar sind, geht es auch in der Regel gut. Für die sind die Repressalien, wie sie die rund 2,5 Millionen Gastarbeiter zu spüren bekommen, nicht das große Thema. Eines ist aber auch klar: Die Fifa hat das Turnier nicht nach Katar vergeben, um das Land zu demokratisieren. Demnach müssten die nächsten Länder, in denen eine WM stattfindet, dann Saudi-Arabien und Nordkorea sein.

    In Ihrem Buch ist ein Gastbeitrag von Ronny Blaschke zu lesen, der einen Boykott der WM kritisch sieht. Seine These: Wer die WM ablehnt, müsste eigentlich gleich die komplette Fußballindustrie boykottieren.

    Schulze-Marmeling: Das finde ich etwas undifferenziert. Ich kann das bei anderen Dingen auch anwenden, zu sagen: Wenn du das tust, musst du auch noch dieses und jenes bekämpfen, das gesamte System in- frage stellen. Ich habe ja auch gar nichts dagegen, wenn Ronny, dessen Arbeit ich im Übrigen extrem schätze, zu einem Boykott der gesamten Fußballindustrie aufruft. Sollte er dann aber auch machen. Und natürlich sollte man auch beispielsweise die Rolle von VW im Fußball thematisieren. Aber stets zu sagen: "Drehst du dieses Rad, musst du auch noch alle anderen Räder drehen", ist ein sogenanntes Totschlagargument, das mir auch schon auf anderen Themenfelder begegnet. Das riecht mir immer zu stark nach einer Entschuldigung fürs Nichtstun.

    Über das Sport-Sponsoring soll das Image Katars verbessert werden, zudem sollen damit Geschäftsbeziehungen geknüpft werden. Das alleine wäre ja noch nicht verwerflich, oder?

    Schulze-Marmeling: Das positive Image soll von den Schatten ablenken, die über dem Land liegen. Zugleich geht es um Beeinflussung der politischen Entscheidungsträger. Wenn man Paris St. Germain kauft, geht es nicht nur darum, Titel zu holen. Sondern darum, Kontakte in die europäischen Eliten zu knüpfen. Zudem wird blutiges Geld in den Fußball gespült. Die FIFA und der europäische Spitzenfußball sind von diesem mittlerweile extrem abhängig.

    Dietrich Schulze-Marmeling ist Mitglied der Deutschen Akademie für Fußballkultur. 2011 wurde sein Werk "Der FC Bayern und seine Juden" zum Fußballbuch des Jahres gewählt.
    Dietrich Schulze-Marmeling ist Mitglied der Deutschen Akademie für Fußballkultur. 2011 wurde sein Werk "Der FC Bayern und seine Juden" zum Fußballbuch des Jahres gewählt. Foto: Thomas Strack

    Beim FC Bayern, der auch enge Geschäftsbeziehungen zu Katar unterhält, wird das Sponsoring mittlerweile äußerst kritisch gesehen. Welche Sprengkraft das Thema hat, war auf der Jahreshauptversammlung des Vereins zu sehen. Hat sich der Wind mittlerweile gedreht?

    Schulze-Marmeling: Wir haben in Deutschland eine starke Vereinskultur, in der es um Mitbestimmung und Mitreden geht – und auch um Werte, für die ein Verein stehen soll. Das unterscheidet die deutschen Vereine etwa von den englischen Klubs, für deren Fans es völlig normal ist, einen Besitzer zu haben. Und die – wie bei Newcastle zu sehen – auch kein Problem mit einem Staatsfonds aus Saudi-Arabien haben, solange das Geld stimmt. Bayern ist der Verein, bei dem die Fans sich am meisten mit dem Thema Katar beschäftigt haben, weil es dieses Sponsoring gibt.

    Für wie realistisch empfinden Sie es, dass die WM boykottiert wird? Kritik an Turnieren gab es ja schon des Öfteren – sobald der erste Ball rollte, bröckeln diese hehren Ansätze.

    Schulze-Marmeling: Man sollte sich nichts vormachen: Dieses Szenario wird in Teilen stattfinden. Sobald die deutsche Mannschaft erfolgreich spielt, werden sich viele Leute die Spiele anschauen. Was wir erreichen können, ist: Dass wir bis zur WM und auch während des Turniers die Diskussion rund um das Thema Menschenrechte und Zukunft der Fifa aufrechterhalten. Wir brauchen auch eine Perspektive über das Turnier hinaus, wie man mit der Fifa umgehen soll. Von dieser WM sollen nicht nur schöne Glanzbilder übrig bleiben, sondern auch die Diskussion, die es um sie gegeben hat. Die Fifa sollte spüren: Das Kuscheln mit den Autokraten zahlt sich für uns doch nicht aus.

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