Da stand er nun, Harry Edward Kane. Die Hände in die Hüfte gestützt, in der vordersten Reihe neben Trainer Gareth Southgate. Während die Spanier nach dem 2:1-Finalsieg das Podest am Mittelkreis des Berliner Olympiastadions entlang schritten, um sich den Pott der Europameisterschaft abzuholen, blieb dem 30-Jährigen wieder einmal nur die Rolle als Zusehers. Fast schon absurd wirkte es, was die Uefa währenddessen auf den Bildschirmen verkündete: Kane ist Torschützenkönig des Turniers. Zwar teilt er sich den Titel mit fünf anderen Spielern, aber erneut lautet die Bilanz nach der EM: ein neuer individueller Titel, erneut keiner mit der Mannschaft. Wie schon in der vergangenen Bundesliga-Saison mit dem FC Bayern, wie eigentlich Kanes komplette Karriere lang.
Weil die Erfolge mit der Mannschaft diejenigen sind, an denen ein Spieler gemeinhin gemessen wird, geriet die Europameisterschaft für Kane zu einer erneuten Enttäuschung. Zweimal stand er mit den Three Lions in den vergangenen drei Jahren in einem EM-Finale. Zweimal stand er kurz davor, den Fluch, der auf der englischen Mannschaft zu liegen scheint, zu brechen. Zweimal scheiterte er denkbar knapp und hat jetzt unzählige Torjägerkanonen, aber eben keine Krone in seiner persönlichen Vitrine. Ob Kane all seine individuellen Titel eintauschen würde für einen, seinen ersten Titel mit einer Mannschaft, wurde Kane auf der Pressekonferenz vor dem Finale gefragt. Die Antwort, mit einem Anflug eines erstaunten Lachens: „Ja, natürlich!“ Aber das Leben funktioniere so eben nicht, fügte er an.

Englands Trainer Southgate verteidigte Kane: „Ist mit Verletzung gekommen“
Wohl wahr. Auch der Sonntagabend in Berlin ist keiner, der für den Umschwung gut ist. Dazu kommt: Kane war während der Dauer des Turniers sichtlich unfit, schleppte sich durch das Turnier. Die Rückenprobleme, die er aus München mitgebracht hatte, ließen sich nie ganz beheben. Das gab auch sein Nationaltrainer Gareth Southgate nach Abpfiff in der Pressekonferenz zu: „Harry ist mit einer Verletzung in das Turnier gekommen. Er hat dennoch viele Minuten gespielt, und wir haben versucht, es zu regeln. Wir mussten auf einige Spieler verzichten, und es lastete viel Druck auf seinen Schultern.“ Wie immer eigentlich, nur mit dem Unterschied, dass Kane während der vier Wochen der EM offenbar nie im Vollbesitz seiner Kräfte war.
Der englische Mirror, sonst nicht zwingend für sein Mitgefühl gegenüber englischen Nationalspielern bekannt, schrieb über Kane: „Es tut gerade weh, Harry Kane zuzusehen.“ Nach einer guten Stunde war der Arbeitstag des Kapitäns ohnehin beendet. Ollie Watkins kam wie schon gegen die Niederlande für ihn. Englands Nummer neun verfolgte das Drama von der Bank aus. Kameras fingen ihn dort ein, wie er kurz vor Abpfiff mit Tränen in den Augen die sich anbahnende Finalpleite verfolgt. Nach der feststehenden Pleite sagte Kane: „Es ist nicht leicht, diese Endspiele zu erreichen. Man muss es nehmen, wenn es kommt, und das haben wir noch nie geschafft. Es ist extrem schmerzhaft und wird noch lange wehtun.“
Tatsächlich stellt sich die Frage, wie viele Chancen Kane noch bekommen wird, seinen Titelfluch mit seiner Nationalmannschaft zu beenden. Am 28. Juli wird er 31 Jahre alt, die Zeit scheint ihm auszugehen. In vier Jahren, wenn die Europameisterschaft in Großbritannien und Irland stattfindet, wäre Kane knapp 35 - nicht zwingend das beste Alter für einen Mittelstürmer, von dem auch Laufarbeit für das Pressing erwartet wird. Selbst bei den Bayern, die ihre erste titellose Saison seit zwölf Jahren hinter sich haben, scheint angesichts der Stärke von Bayer Leverkusen nicht sicher zu sein, dass es in der kommenden Saison etwas zu bejubeln gibt. Kane sprach gegenüber der BBC nach Abpfiff von „vielen müden Beinen“ in der Mannschaft. Zwei davon dürften ihm selbst gehören.
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