Nach und nach verlassen die deutschen Handballer am frühen Donnerstagmorgen das Mannschaftshotel am Stadtrand von Oslo. „Es tut weh“, sagt Spielmacher Juri Knorr, als er seinen großen Koffer durch die schmucke Lobby schiebt. Der Frust und die Enttäuschung stehen ihm ins Gesicht geschrieben – wie allen anderen auch. Keine Frage: Das dramatische Aus im WM-Viertelfinale gegen Portugal wirkt nach. Es ist ein schwerer Schock. Und es wirft eine Menge Fragen auf.
Einige davon versucht der Deutsche Handballbund (DHB) nur wenige Stunden nach der schmerzhaften 30:31-Niederlage nach Verlängerung zu beantworten. Andere wiederum bleiben offen. Und sie werden den DHB beschäftigen, wenn der Verband das Turnier ernsthaft kritisch analysieren will.
Der Trainer sieht das Turnier nicht als Rückschritt
Das Entsetzen über das Ende aller Medaillenträume ist auch Nationalmannschaftsmanager Benjamin Chatton anzusehen, als er mit versteinerter Miene auf dem Podium im Konferenzraum des Mannschaftshotels sitzt. Direkt neben ihm nimmt Bundestrainer Alfred Gislason Platz. Der Isländer verzieht ebenfalls kaum das Gesicht. Von ihm kennt man es allerdings nicht anders. Gewonnen? Verloren? Es lässt sich selten an seiner Gestik und Mimik ablesen. Eigentlich nie.
Um also zu verstehen, was er fühlt und vor allem auch denkt, ist es besonders wichtig, was der 65-Jährige sagt. Und das ist dann mindestens erstaunlich: „Ich sehe das Turnier nicht als Rückschritt.“ Genau das hatte Gislason schon unmittelbar nach der Niederlage am späten Mittwochabend gesagt, weshalb seine wiederholenden Worte nach einer kurzen Nacht ein bisschen flehend bis beschwörend wirken. So ganz nach dem Motto: Wenn ich es oft genug erzähle, glaube ich es auch. Und alle anderen. Dann wird der Wunsch zur Wirklichkeit. Ob das tatsächlich gelingt?
Einen etwas anderen und vor allem kritischeren Blick auf die Weltmeisterschaft haben einige Spieler. „Wir haben das Minimalziel erreicht, aber auch nicht mehr. Das ist schade“, sagt Mittelmann Luca Witzke. Noch deutlicher wird Abwehrspezialist Christoph Steinert: „Das ist eine Riesenenttäuschung. Wir haben uns das anders ausgemalt.“ Und vor allem: „Wir sind normalerweise besser als das hier.“
Steinerts Worte sind eine ehrliche und treffende Analyse, die sowohl für das Viertelfinale im Speziellen als auch für das Turnier im Gesamten zählt. Weshalb der gegen Portugal mit 21 Paraden einmal mehr überragende Torwart Andreas Wolff nicht einfach so zur Tagesordnung übergehen will: „Wir müssen einiges aufarbeiten. Ich habe meine Gedanken dazu, warum es nicht gereicht hat. Aber die werde ich öffentlich nicht teilen.“ Man darf gespannt sein, was der Keeper intern anspricht.
Es gibt kritische Stimmen rund ums Team
Klar ist: Dem DHB stehen unter normalen Umständen ein paar unruhige Tage ins Haus. Vielleicht auch Wochen. Zumal es längst kritische Stimmen gibt. Ex-Nationalspieler Michael Kraus widersprach dem Bundestrainer bereits beim Streamingdienst Dyn in der Turnierbewertung: „Bullshit, natürlich ist das ein Rückschlag.“
2007-Weltmeister Johannes Bitter, mittlerweile Sportchef beim Bundesligisten HSV Hamburg, wurde in der ARD ganz konkret. Die stets wiederkehrenden Probleme zu Spielbeginn machen ihn fassungslos: „Das ist ja gegen Portugal nicht zum ersten Mal passiert. Wir brauchen fast in jedem Spiel die ersten 20 Minuten, um überhaupt mal zu lernen und zu verstehen, was der Gegner macht. Da frage ich mich ganz ehrlich: Wo ist die Vorbereitung?“ Kurzum: Bitter äußerte sich zum Arbeits- und Kernbereich des Trainers – ohne dessen Namen zu nennen. Ob ihn Gislasons Erklärungen zufriedenstellen?
Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden