Alfred Gislason weiß noch nicht so recht, was er von seiner Mannschaft denn halten soll. "Der erste Anzug sitzt", sagte der Bundestrainer nach dem ersten von zwei Testspielen gegen Island am Wochenende. "Der zweite noch nicht." Vor dem Auftakt der Handball-Weltmeisterschaft in Polen und Schweden in dieser Woche fällt auch dem 63-Jährigen eine Standortbestimmung schwer.
Mit den beiden Kielern Patrick Wiencek und Hendrik Pekeler, die aus der Nationalmannschaft zurückgetreten sind, fehlt Gislason der vielleicht beste Abwehrblock im Welthandball, der Berliner Fabian Wiede hat ihm abgesagt, weil er sich einer Kieferoperation unterziehen will – und auf der Bank, im zweiten Anzug gewissermaßen, saßen gegen Island gleich mehrere Spieler, die man noch vor einigen Monaten nicht unbedingt dort erwartet hätte – etwa Djibril M’Bengue vom Bergischen HC oder Tim Zechel aus Erlangen. Wo also steht der deutsche Handball sieben Jahre nach seinem letzten Titel, dem Triumph bei der Europameisterschaft? Ein Formcheck:
Die deutsche Handball-Mannschaft im Formcheck
Tor: Andreas Wolff ist die klare Nummer eins, er spielt beim polnischen Spitzenteam Kjelce eine starke Champions-League-Saison und hat auch in den beiden Testspielen gegen Island überzeugt. Für den zweiten Torhüter, Joel Birlehm von den Rhein-Neckar-Löwen aus Mannheim, gilt das nur eingeschränkt. In der Bundesliga gibt es Torleute mit besseren oder ähnlich guten Statistiken – Silvio Heinevetter etwa, der in Stuttgart gerade seinen dritten oder vierten Frühling erlebt. Sollte Wolff schwächeln oder sich gar verletzen, könnte ausgerechnet die Torhüternation Deutschland ein Problem bekommen. Umgekehrt ist ein Wolff in WM-Form aber eine sichere Bank.
Abwehr: Mit Simon Ernst aus Leipzig, dem jungen Julian Köster aus Gummersbach oder Kapitän Johannes Golla aus Flensburg hat Gislason drei tüchtige, aber noch nicht besonders gut aufeinander abgestimmte Abwehrrecken für den Mittelblock. Gegen Island harmonierten sie in den unterschiedlichsten Besetzungen teilweise bereits ganz gut miteinander, hatten aber gegen die wendigen, flinken Rückraumspieler aus Gislasons Heimatland auch häufiger das Nachsehen. Die 31 Gegentore im zweiten Spiel gegen eine Mannschaft, der mit ihrem Star Aaron Palmarsson und Omar Ingi Magnusson vom deutschen Meister Magdeburg gleich zwei ihrer besten Werfer fehlten, waren ein paar Tore zu viel.
Angriff: Anders als Franzosen, Dänen oder Spanier hat die deutsche Mannschaft keine wurfgewaltigen Aufbauspieler vom Schlage eines Erhard Wunderlich oder eines Volker Zerbe mehr, die mit viel Anlauf und großem Sprungvermögen jede gegnerische Abwehrmauer überwinden können. Das deutsche Spiel ist stark auf den jungen Juri Knorr zugeschnitten, der von der Mittelposition aus mit seiner Explosivität Lücken in den Verteidigungsverbund reißen und so Platz für seine Mitspieler schaffen soll, allen voran für Kreisläufer Golla. Im ersten Spiel gegen Island leistete der Spielmacher der Rhein-Neckar-Löwen sich allerdings auch eine Reihe "teurer Fehler", wie Gislason zürnte. Es waren Knorrs Fehlversuche und seine Fehlpässe, die es Island ermöglichten, das Spiel nach einem Sechs-Tore-Rückstand noch zu gewinnen. Im zweiten Spiel drehte er beim 33:31 mit 13 Toren dafür umso mehr auf.
Eine Medaille bei der Handball-WM liegt für Deutschland im Bereich des Möglichen
In die WM startet die deutsche Mannschaft am Freitag im polnischen Kattowitz gegen den Asienmeister aus Katar, der sich mit seiner lässigen Einbürgerungspolitik über die Jahre eine im internationalen Vergleich durchaus wettbewerbsfähige Mannschaft zusammengekauft und Deutschland bei den Weltmeisterschaften 2015 und 2017 auch geschlagen hat. Außerdem trifft das Team Gislason in der Vorrunde noch auf die schwer auszurechnenden Serben und auf Algerien, den mutmaßlich leichtesten Gegner in Gruppe E. Sollten die deutschen Handballer, anders als die Kollegen Fußballer zuletzt in Katar, die Gruppenphase überstehen und dort nicht zu viele Punkte liegen lassen, dürfen sie tatsächlich von einer Medaille träumen. In der Hauptrunde können sie weder auf Angstgegner Spanien noch auf andere Handball-Großmächte wie Frankreich, Schweden oder Dänemark treffen und damit vergleichsweise leicht das Viertelfinale erreichen.