Es ist ein wenig still geworden. Zumindest, wenn es darum geht, ein klares Ziel zu formulieren. Je näher die Europameisterschaft rückt, desto weniger wird beim Deutschen Handballbund (DHB) darüber gesprochen, was die Mannschaft denn eigentlich erreichen soll. Oder will. Oder muss. Von Träumen ist die Rede. Und auch von Visionen. Aber nicht von klaren Zielen. Keine Frage: Die Anspannung wächst.
Immerhin gibt es da ja noch Torwart Andreas Wolff. Der ist zwar mittlerweile in der Lage, einen sicheren Hafen für sein Ego zu finden, aber weiterhin für unmissverständliche Ansagen bekannt. Er redet nicht drumherum. "Das Ziel ist natürlich ganz klar, Europameister zu werden. Wer antritt und nicht Europameister werden möchte, hat seinen Beruf verfehlt", haut der gerade von einem Bandscheibenvorfall genesene 32-Jährige einen raus und erinnert damit indirekt an die Europameisterschaft 2016.
Wiederholt sich die Handball-EM-Geschichte?
Vor acht Jahren reisten die Deutschen als krasser Außenseiter zum Turnier nach Polen, ein damals nur Fachleuten bekannter Wolff sprach trotzdem vom ersten Tag an von der Goldmedaille. Und sollte am Ende tatsächlich recht behalten. Ob sich die Geschichte nun wiederholt? Ungewiss. Zumindest sind die Vorzeichen ähnlich. "Wir zählen nicht zu den Favoriten", stellt Bundestrainer Alfred Gislason klar.
Die Deutschen starten am Mittwoch (20.45 Uhr/live im ZDF) gegen die Schweiz im Düsseldorfer Fußballstadion in das Turnier. Es folgen zwei weitere Vorrundenpartien in Berlin. Am Sonntag (20.30 Uhr/ZDF) heißt der Gegner Nordmazedonien, zwei Tage später (20.30 Uhr/ARD) steht das Kräftemessen mit Olympiasieger Frankreich an.
Doch die Gegenwart heißt erst einmal Düsseldorf: Mehr als 53.000 Fans kommen zum Auftakt, ein Zuschauer-Weltrekord für ein Handballspiel wird aufgestellt. Die Euphorie im Land wächst. Das Interesse ist riesig. Die Erwartungshaltung gigantisch. Doch Wolff begegnet alldem mit einer Portion Lockerheit, was gewiss nicht die schlechteste Herangehensweise ist. "Der Druck beim Bandscheibenvorfall war schon größer als das jetzt", sagt das Kraftpaket. Und lacht. Bei ihm, so viel steht fest, überwiegt die Vorfreude. Der Keeper fiebert dem Start nicht nur entgegen, er sehnt sich nach ihm. Wolff will endlich spielen. Denn er weiß: Den Deutschen bietet sich bei diesem Turnier vor eigenem Publikum die Chance ihres Lebens.
Klar ist, dass die DHB-Auswahl ihre drei Leistungsträger in Topform braucht, wenn sie ins Halbfinale kommen will. Ohne Wolff, den Titan im Tor, Juri Knorr, den genialen Geist im Rückraum, und Kapitän Johannes Golla, das Kraftpaket am Kreis, geht es einfach nicht. Sie sind das Herz, das Hirn und das Rückgrat dieser Mannschaft. Oder wie es DHB-Sportvorstand Axel Kromer formuliert: "Wir haben endlich eine zentrale Achse und keine Nation der Welt wird sagen, dass man auf diese Jungs nicht achten muss." Was zweifelsohne stimmt. Die Startformation um dieses Trio erbrachte in den vergangenen Monaten den Nachweis, durchaus höheren Ansprüchen zu genügen. So weit, so gut.
Die Suche nach der Konstanz im deutschen Handball-Team
Doch es gibt da ein Wort, das in den Tagen vor dem EM-Start immer wieder gesagt wird. Vom Trainer. Vom Sportvorstand. Vom Kapitän. Weshalb auch anders als bei der stillen Post alle wissen, was gemeint ist. "Wir brauchen mehr Konstanz", fordert Kromer. "Ich wünsche mir mehr Konstanz", sagt Gislason. Und Golla hält fest: "Wir suchen nach der Konstanz." Seiner Meinung nach seit Januar 2023. Vielleicht sogar schon länger. Denn in der Tat laufen die meisten Spiele der Nationalmannschaft seit geraumer Zeit ähnlich, ja geradezu schablonenhaft ab.
"Wir starten oft gut und geben unseren Vorsprung dann leider häufig in zehn bis 15 Minuten aus der Hand", ärgert sich Golla über das stets wiederkehrende Muster, das in letzter Konsequenz mit fehlender Qualität in der Breite zu erklären ist und entsprechend zu ausbleibender Konstanz führt. Denn wenn die Leistungsträger das Feld verlassen und Verschnaufpausen erhalten, führt das fast immer zu einem Bruch im deutschen Spiel. Andererseits kann man Golla, Knorr und auch Julian Köster keine Dauerbelastung zumuten. Erst recht nicht in einem Turnier mit immer neuen Herausforderungen im 48-Stunden-Rhythmus. Ein Teufelskreis. Weshalb die Worte von Knorr auch nicht verwundern: "Wir brauchen mehr Entlastung." Sonst platzt der Medaillentraum.
Andere Mannschaften sind den Deutschen voraus
Kapitän Golla weiß um die Probleme, weshalb er seine Sätze bedachter als Wolff formuliert. Der Traum vom Halbfinale sei zwar "legitim", sagt der 26-Jährige, aber man müsse auch "realistisch sein und anerkennen, dass uns andere Nationen in den vergangenen Jahren etwas voraus waren".
Doch jetzt haben sich die Spielregeln verändert. Zumindest ein bisschen. Und zwar zugunsten der DHB-Auswahl, die – ein Weiterkommen vorausgesetzt – ab der Hauptrunde nur noch in der Kölner Lanxessarena, der Kathedrale des Handballs spielen würde. "Und dort ist eben alles anders. Da kann Deutschland vor 19.000 Zuschauern gegen jeden gewinnen", glaubt Andy Schmid, der ehemalige Profi der Rhein-Neckar Löwen und Kapitän der Schweizer.
Seine Kollegen und er werden am Mittwoch mehr als 50 .000 Fans gegen sich haben. Die Eidgenossen wollen die Atmosphäre trotzdem genießen, die Rolle des Spielverderbers einnehmen. Sie können sich aber sicher sein, dass vor allem Andreas Wolff etwas dagegen hat.