Alfred Gislason befindet sich in seinem ganz persönlichen Tunnel. Oder besser gesagt: im "Endspiel-Modus". Weil der routinierte Trainer der deutschen Handball-Nationalmannschaft weiß, dass jeder Punktverlust bei der Heim-Europameisterschaft das Halbfinale kosten kann. Entsprechend ist für ihn am Freitag der wichtige 26:24-Sieg über Island am Abend zuvor fast vergessen. Aber auch nur fast.
Gislason merkt lediglich an, was besser werden muss. Vor allem im Angriff. Er ist eben nie zufrieden. Auch im Wissen, dass die Auswahl des Deutschen Handballbundes (DHB) bei diesem Turnier noch nichts erreicht hat. Und die Ausgangslage unverändert ist: Weiterhin zählen nur Siege, weshalb die ganze Konzentration der zweiten Hauptrundenpartie am Samstag (20.30 Uhr/ARD) gegen Österreich gilt. "Wir müssen sehr gut spielen. Österreich ist die Überraschung dieser EM", sagt der Bundestrainer. Und doch ist klar: Seine Mannschaft geht als Favorit in diese Begegnung.
Gegen Island stimmte für das DHB-Team auch das Ergebnis
Dies gilt umso mehr nach der bestandenen Reifeprüfung gegen Island, in der das DHB-Team eine seit Jahren vermisste Nervenstärke zeigte. Oft stimmte ja das Erlebnis, aber nicht das Ergebnis. Diesmal aber gewannen die Deutschen ein Spiel, das sie aufgrund des Verlaufs und der eigenen Leistung nicht zwingend gewinnen mussten. Sie taten es aber. Weshalb diese Begegnung möglicherweise sogar eine Art Schlüsselerlebnis war. Nicht nur für dieses Turnier. Sondern für die nächsten Jahre.
Oft ist es im Sport ja nur ein einziges Spiel, das ein Team auch mental auf ein neues Niveau hebt. Das aus einer Mannschaft, die weiß, dass sie gut spielen kann, eine Mannschaft macht, die weiß, dass sie gewinnen wird. Selbst wenn es dramatisch, eng, umkämpft zugeht. Wenn es auf Kleinigkeiten ankommt. Wenn Widerstände überwunden werden müssen. Und wenn Rückschläge auftreten.
Im Duell mit Island kam es auf Kleinigkeiten an. Es wurden Widerstände überwunden. Es traten Rückschläge auf. Es wurde sogar ein Rückstand gedreht. Kurzum: Diese Begegnung war vollgepackt mit Prüfungen für die DHB-Auswahl. Die damit aber umzugehen wusste, die die Ruhe behielt.
Das alles macht aus den Deutschen zwar nicht auf einen Schlag einen Turnierfavoriten, es beschleunigt im Normalfall aber die Entwicklung. "Wir haben gezeigt, dass wir mit einem knappen Spiel umgehen können" freut sich Kapitän Johannes Golla. Auch Jannik Kohlbacher ist erleichtert. Der Mann von den Rhein-Neckar Löwen wählt fast die gleichen Worte wie sein Kapitän: "Wir haben gezeigt, dass wir da sind, wenn es drauf ankommt."
Den Deutschen Handballern entglitten oft genug Spiele
Es verwundert nicht, dass ausgerechnet die beiden Kreisläufer sich so äußerten. Denn dieses Duo hat es oft genug anders erlebt. Sie waren dabei, wenn den Deutschen die Spiele entglitten, wie sie es in jedes Lehrvideo für Angstforscher schafften. Nun gehören die beiden Profis zu den erfahrenen Spielern im Team. Golla ist 26 Jahre alt, Kohlbacher 28. Womit alles gesagt wäre.
"Wir haben viele sehr junge Spieler. Und entscheidende Leute sind sehr jung bei uns. Solch eine Partie dann zu gewinnen, wo es um jede Aktion geht, in der jeder Fehler entscheidend ist – das kann diese Mannschaft einen riesigen Schritt nach vorne bringen", glaubt Gislason, der hin und wieder selbst seinen Blickwinkel verändern muss.
Für einen wie ihn, der mit seinen 64 Jahren alles gewonnen und noch mehr erlebt hat, ist es normal, vor knapp 20.000 Zuschauern in der Kölner Arena zu spielen. Er kennt alles. Und hat hier zweimal die Champions League mit dem THW Kiel gewonnen. Rückraummann Martin Hanne wiederum kannte die Kathedrale des Handballs bislang nur aus dem Fernsehen und staunte nicht schlecht, als er erstmals in der riesengroßen Arena trainierte.
"Das war wie Weihnachten und Ostern zusammen für ihn", scherzt Gislason, der es in seiner sehr erfolgreichen Zeit als Vereinstrainer gewohnt war, mit herausragenden Einzelspielern, mit absoluten Superstars zusammenzuarbeiten. Seit der Isländer Anfang 2020 aber die deutsche Nationalmannschaft übernahm, ist er gefordert, ja, sogar gezwungen, selbst etwas zu entwickeln. Und auf dieser Aufgabe lässt er sich mittlerweile ein. Der Fortschritt erfolgt langsamer, aber stetig. Das musste erst Gislason lernen, ein Stück weit sogar akzeptieren. Doch auch mit kleinen Schritten kommt man irgendwann oben an.