Vor kurzem wieder etwas von Franz Beckenbauer gelesen. Bild hat mit ihm gesprochen. Das Blatt ist seit gefühlten 75 Jahren, so alt wird der Kaiser am 11. September, Beckenbauers Zentralorgan. Die Jungs von Bild sind die Letzten, die noch etwas aus ihm herauskitzeln, wenn er schon auf der Intensivstation liegt. Aber im Moment scheint es ihm ja wieder besser zu gehen. Man merkt das am Franzeln.
Beckenbauer ist einer der wenigen Menschen, deren Art zu formulieren, ein eigenes Verb hervorgebracht hat. "Franzeln" bedeutet "charmant auf den Putz hauen, bis der Kalk von der Decke rieselt". Und wenn das ganze Haus einfällt, nichts damit zu tun haben zu wollen, sondern andernorts ungerührt weiter zu franzeln.
Franzeln kann nur Beckenbauer. Jeder andere wirkt – ja man muss es so sagen – unglaubwürdig. Für glaubwürdiges Franzeln muss einer als Spieler und Trainer Weltmeister sein, im Fußball alles gewonnen haben, was es zu gewinnen gibt – und das mit einer Eleganz, wie sie nicht einmal jedem Südamerikaner vergönnt ist.
Beckenbauer franzelte sich durch die Welt
Mit all dem ausgestattet, hat sich Beckenbauer durch die Welt gefranzelt. 1990, nach dem WM-Triumph in Italien, als er über den römischen Rasen geschlendert ist, während die Welt um ihn versank, franzelte er selbiger gut gelaunt hinterher: Das vereinigte Deutschland werde über Jahre hinaus unbesiegbar bleiben. Auweia! Berti Vogts, sein Nachfolger, hatte den Spruch auszubaden.
So klingt der Kaiser, wenn ihn der Übermut packt. Also war es auch nicht verwunderlich, dass der grandiose Champions-League-Triumph seiner Bayern, angeleitet von Bild, jüngst in ein mediales Comeback münden würde. Er sprach sich für eine Rückkehr des wieder auferstandenen Thomas Müller in der Nationalmannschaft aus ("Jogi bricht sich keinen Zacken aus der Krone, wenn er ihn zurückholt") und beantwortete die Frage nach einem Zehnjahresvertrag für Hansi Flick mit einem Super-Firlefranz: "Du kannst ihm auch einen 100-jährigen Vertrag geben." Irgendjemand wird’s schon ausbaden. Im Zweifel nicht Beckenbauer.
Er war völlig abgetaucht - nun meldet er sich wieder zu Wort
Dass er nun wieder zu sehen und zu lesen ist, mag auch noch andere Gründe haben. Vor einigen Wochen ist der Prozess um die Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 und einen ungeklärten 6,7-Millionen-Euro-Kredit in der Schweiz geplatzt – wegen Verjährung. Beckenbauer hatte zu den Beschuldigten gehört.
Davor war er völlig abgetaucht. Verglichen mit dem medialen Lärm, den er früher verursacht hatte, war es besorgniserregend ruhig um ihn geworden. Dazu mag auch der schwere Schicksalsschlag beigetragen haben, den er 2015 erlitten hat. Damals starb sein Sohn Stephan aus erster Ehe im Alter von 46 Jahren an einem Gehirntumor. Der ehemalige Bundesliga-Spieler war seinem Vater sportlich am nächsten gekommen – ohne ihn ansatzweise zu erreichen.
Heute weiß die Welt, die Franz Beckenbauer als Spieler und Teamchef zu Füßen lag, nicht wirklich, wie es ihm geht nach seinen beiden Herzoperationen, dem Einsatz des künstlichen Hüftgelenks, dem Augeninfarkt, der seine Sehkraft im rechten Auge einschränkt, einer Leisten-OP in diesem Jahr und der Geschichte um die Vergabe der WM 2006. Sie hat Beckenbauer, dem Mann, der Deutschland in der Vorstellung der Menschen das Sommermärchen beschert hat, dem Vorwurf der Korruption ausgesetzt. Die privaten Bulletins zu seiner körperlichen und emotionalen Verfassung gehen seither weit auseinander.
Wer zwischendurch allerdings das eine mit dem anderen in Zusammenhang brachte, wie es Altkanzler Gerhard Schröder getan hatte ("Leider geht es ihm nicht ganz so gut. Die Sache mit der Fifa hat ihm wohl doch stark zugesetzt"), erntet kaiserlichen Widerspruch: "Ich bin mit mir im Reinen. Meine Herzprobleme sind nach der Operation unter Kontrolle", erklärte Beckenbauer nach seiner zweiten Operation im November 2017.
Jüngere Angaben zu Beckenbauers Gesundheitszustand klingen widersprüchlich. Einmal erzählte Frank Fleschenberg, Präsident des Eagles Charity Golf Clubs, zu dessen Gründungsmitgliedern auch die frühere Lichtgestalt des deutschen Fußballs gehört, dass es "dem Franz" gut gehe. Das Gegenteil äußerte Beckenbauers Sohn Joel: "Meinem Vater geht es ja nicht so gut." Deshalb verschiebt der 19-Jährige den Start seines Studiums und bleibt zu Hause bei der Familie. Joels 16-jährige Schwester folgt nun dem Beispiel des Bruders und unterbricht ihr Auslandsjahr.
Bezieht Franz Beckenbauer zu den Vorwürfen gegen ihn im Zusammenhang mit der WM-Vergabe Stellung, klingt es, als wäre er noch der Fußball-Kaiser, der einst die Republik regiert hat. "Erstunken und erlogen" sei alles, was auf eine gekaufte WM 2006 hindeute. In solchen Momenten ist er noch immer der junge, wilde Kaiser, der er als Spieler war.
Wie er einst zum FC Bayern München kam - eine legendäre Geschichte
Aufgewachsen im Münchner Stadtteil Giesing als Sohn eines Postobersekretärs und einer Hausfrau, mit opulentem Talent gesegnet, musste ihn der Weg vom SC 1906 München zum damals regierenden TSV 1860 München führen. So wäre es auch gekommen, hätte sich Beckenbauer 1958 als 13-Jähriger von einem Löwen-Verteidiger nicht eine Watschn eingefangen.
Beckenbauer konnte damals eigentlich alles spielen. Er sei frech gewesen, weil er schnell gewesen sei – so erinnerte er sich anlässlich eines Besuchs im Bayerischen Fernsehen in "Blickpunkt Sport". Gerhard König, der Löwen-Verteidiger, später Gastwirt im Allgäu, reagierte mit einem Tackling. "Es hat ein Wort das andere gegeben", erinnert sich König – und am Ende folgte die Watschn. Der 76-jährige König hat seine Rolle in der Geschichte mit dem jungen Kaiser lange verschwiegen, "aus Sorge, dass mir Chaoten meine Wirtschaft auseinandernehmen", sagt er. So weit aber kam es nicht.
Beckenbauer immerhin wollte fortan mit den Löwen nichts mehr zu tun haben und wechselte zum FC Bayern. Eine nicht ganz unbedeutende Weichenstellung. Der Kaiser war in den 70er Jahren, in denen die Bayern unter anderem dreimal hintereinander den Europapokal der Landesmeister gewannen, der prägende Spieler bei den Roten.
Beckenbauer war einzigartig – und das nicht nur beim FC Bayern, sondern auch in der Nationalelf. Es gab Sprinter wie Uli Hoeneß, Dauerläufer wie Herbert "Hacki" Wimmer, Wadlbeißer wie Berti Vogts, Strategen wie Wolfgang Overath und in Gerd Müller einen der besten Mittelstürmer der Welt, aber nur einen Spieler von der Eleganz und fußballerischen Weltläufigkeit Franz Beckenbauers.
Mit 20 war er im Londoner Wembley-Stadion Vizeweltmeister geworden. Spätestens damals war klar, dass dem deutschen Fußball ein Jahrhundertspieler heranwuchs. Die Welt beneidete Deutschland um dieses Talent, das nie den Kopf senken musste, um zu wissen, was der Ball zu seinen Füßen trieb. In den 70er Jahren gab es in Europa nur noch einen zweiten Spieler von ähnlicher Leichtigkeit, den Holländer Johan Cruyff. Im WM-Finale 1974 in München trafen Cruyff, eher offensiv ausgerichtet, und Beckenbauer, der beste Libero seiner Zeit, aufeinander. Deutschland gewann 2:1 – der zweite WM-Triumph nach 1954, dem Wunder von Bern.
Beckenbauer, der schon zwei Jahre vorher an der Seite von Günter Netzer Europameister geworden war, stand 1974 auf dem Gipfel seiner Spielerkarriere. Dort oben blieb er auch in den letzten Jahren bei Cosmos New York und beim Hamburger SV, mit dem er nochmals Deutscher Meister wurde. Trotzdem haben die Menschen im Land Beckenbauer nicht geliebt. Sie haben den Kaiser bewundert. Ihr Herz aber gehörte dem volksnahen Uwe Seeler oder dem phänomenalen Gerd Müller. Die Schöngeister haben es mit Günter Netzer gehalten, die Arbeiter mit Berti Vogts.
Alles, was er anpackte, schien zu Gold zu werden. Dann kam der Skandal
Herbert Hainer hat Beckenbauers Karriere interessiert verfolgt. Hainer war 15 Jahre Vorstandsvorsitzender der Adidas AG, Werbepartner und Anteilseigner der FC Bayern AG. Der 66-Jährige ist seit einem halben Jahr Präsident der Bayern und damit einer der Nachfolger von Franz Beckenbauer.
Auf die Frage, welcher Sportler ihn am meisten beeindruckt habe, nennt Hainer zwei Namen. "Wen ich wirklich bewundert habe, das war Franz Beckenbauer. Fußball damals, das war Arbeit und Kampf. Dann kam dieser Beckenbauer, und bei ihm war das Leichtigkeit und Eleganz. Der Kerl hat ja nicht geschwitzt. Der andere war Muhammad Ali. Früher waren das im Boxen schwere Männer, die versucht haben, sich zu verhauen, und dann hat dieser Ali durch seine Schnelligkeit und Leichtfüßigkeit das Boxen auf eine neue Ebene gebracht."
Beckenbauer bewahrte sich diese Leichtigkeit auch für die Zeit nach seiner Spielerkarriere. Alles, was die Lichtgestalt anpackte, schien zu Gold zu werden. Ob als Trainer beim FC Bayern oder als Teamchef der Nationalelf. Dass er die erforderliche DFB-Lizenz nicht hatte – geschenkt. Wer einen Beckenbauer bekommen kann, drückt auch mal beide Augen zu. Erst recht, wenn auf die Vize-Weltmeisterschaft 1986 der WM-Titel 1990 folgte.
Einige Jahre später trat Beckenbauer, damals mutmaßlich der bekannteste Deutsche auf dem Erdball, an, eine dritte WM für Deutschland zu gewinnen – die des Gastgebers 2006. Natürlich hat er auch das geschafft. Nur hängt dem Triumph des Sommermärchens bis heute der dunkle Schatten der Korruption nach, ohne die Deutschland die WM möglicherweise überhaupt nicht bekommen hätte. Franz Beckenbauers Rolle in dem Spiel bleibt so unklar wie der Weg, den die ominösen 6,7 Millionen Euro genommen haben.
Heute wohnt der angeschlagene Kaiser mit seiner dritten Ehefrau Heidi, einer ehemaligen FC-Bayern-Sekretärin, in einer Villa im Salzburger Nobelvorort Parsch. Er lebt zurückgezogen, heißt es. Auf den Festspielen wurde er zuletzt nicht mehr gesehen. Dafür regelmäßig auf dem Golfplatz. Golfen ist nach dem Fußball seine große Leidenschaft. Auch dafür hat er mit seinen 75 Jahren noch immer ein goldenes Händchen.
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