«Lass prallen.» Das Kommando von Trainer Jürgen Menger an Nicola Roos und ihre Mitspieler hallt laut über den grell erleuchteten Kunstrasenplatz im rheinhessischen Essenheim. Hier trainiert das Amputierten-Fußballteam des 1. FSV Mainz 05, des amtierenden deutschen Meisters. Mit dabei ist in der 18-jährigen Roos aus der Nähe von Karlsruhe die einzige in dieser Sportart in Deutschland aktive Spielerin.
Sie bewegt sich mit ihren Krücken schnell und wendig über das Grün. An einem Abend im November bereitet sich das Team im Training auf ein Hallenturnier vor, übt Spielzüge im Mittelkreis, umstellt mit Holztischen. Die sollen ein Gefühl für die Bande in der Halle geben, erklärt Co-Trainer Jörg Schmidtke.
«Ich wollte einfach spielen»
Roos ist nicht nur die einzige Frau im Kader, sondern auch mit Abstand jüngstes Teammitglied. All das kümmert sie wenig. Sie liebt den Sport, wollte ihn unbedingt auch nach einem schweren Schicksalsschlag weiter betreiben. «Kicken bedeutet mir alles», sagt die 18-Jährige, die im badischen Ettlingen bei Karlsruhe wohnt.
Vor einigen Jahren wurde bei ihr Knochenkrebs im rechten Knie diagnostiziert, der rechte Ober- und Unterschenkel mussten 2021 amputiert werden. Klar sei sie erstmal traurig gewesen, erinnert sie sich. «Das hat sich aber schnell gelegt, ich kann es ja auch nicht ändern.» Als sie zum ersten Mal vom Amputierten-Fußball gehört habe, sei sie sofort voll dabei gewesen.
Zwangsläufig musste die Rechtsfüßerin, die seit ihrem vierten Lebensjahr am Ball ist, auf links umschulen. Eine Umstellung sei auch die viel stärkere Belastung des Oberkörpers beim Spielen mit Krücken. Gelohnt hat sich die Mühe allemal. «Beim Kicken vergisst man alles und hat Spaß», sagt sie.
Langer Weg zum Training
Jeden zweiten Freitag macht sich Roos für das Training auf den langen Weg von Ettlingen nach Essenheim. Mehr als zwei Stunden ist sie jedes Mal unterwegs, erst mit öffentlichen Verkehrsmitteln bis in die Südpfalz, von dort fährt sie mit einem Teamkollegen im Auto weiter bis zum Sportplatz der Spielvereinigung Essenheim 1886, einem Partnerverein von Mainz 05.
Einst war Roos gemeinsam mit einigen Mitspielern bei Anpfiff Hoffenheim aktiv, dem einst bundesweit ersten eingetragenen Amputierten-Fußballverein. Anfang 2023 begann dann die Geschichte des Amputierten-Fußballs bei Mainz 05 als nächster Standort mit einem Team neben Düsseldorf, Hamburg, Berlin, Braunschweig und eben Hoffenheim.
Die Amputierten-Fußballer und -Fußballerinnen seien auf den Verein zugekommen und hätten gefragt, ob sie unter das Dach von Mainz 05 kommen könnten, erinnert sich Vorstandschef Stefan Hofmann. Dem habe man zugestimmt. Als eingetragener Verein habe Mainz 05 den sozialen Auftrag, Menschen einen sportlichen Platz zu bieten – «dazu gehören für uns natürlich auch Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen.»
Erst Vizemeister, dann Meister
Es habe auch einen persönlichen Bezug zu der Mannschaft durch Trainer Jürgen Menger gegeben, der einst Spieler der 05er war und 1982 mit dem Club deutscher Amateurmeister wurde. Der in Mainz geborene 63-Jährige spielte früher in der zweiten Liga zudem für den SC Freiburg an der Seite von Jogi Löw.
«Wir sind stolz auf das, was Jürgen und sein Team in den vergangenen beiden Jahren, gipfelnd in der deutschen Meisterschaft, geleistet haben und leisten», sagt Hofmann. 2023 scheiterten Roos und Co. in der Bundesliga noch im Endspiel um die deutsche Meisterschaft an Fortuna Düsseldorf (1:5). Am 12. Oktober dieses Jahres gelang dann ein 1:0-Finalsieg gegen den Hamburger SV.
Doch damit nicht genug: Im Juni dieses Jahres holte die deutsche Nationalmannschaft, zu der auch Roos zählt, Platz sieben bei der Europameisterschaft in Frankreich und sicherte sich so ein Ticket für die WM 2026 in Costa Rica.
Roos war in Mainz von Beginn an dabei, spielt hier mit Spielern etwa aus Würzburg oder Saarbrücken. Das Einzugsgebiet ist riesig, es gibt nicht viele Vereine mit einem solchen Angebot. Gespielt wird in Deutschland zweimal 20 Minuten im Format fünf gegen fünf auf einem 40 mal 20 Meter großen Feld. International sind es sieben gegen sieben auf 60 mal 40 Metern.
Bundesliga organisiert sich in gemeinnütziger Gesellschaft
Möglich machte den Bundesliga-Betrieb mehrere Jahre lang ein Modellprojekt der Aktion Mensch Stiftung sowie der Initiative «Anpfiff ins Leben», deren wichtigster Unterstützer die Dietmar Hopp Stiftung mit Sitz in Walldorf ist. In der Zeit wurde ein Ligabetrieb aufgebaut.
Ende März dieses Jahres endete das Projekt, seitdem organisiert sich der Amputierten-Fußball in der neu gegründeten gemeinnützigen Gesellschaft Deutscher Amputierten Fußball (DAFL gGmbH). Hinter der steht Christian Heintz, Mitspieler von Nicola Roos im Team der 05er und Siegtorschütze im Bundesliga-Finale 2024.
Es müsse bislang immer geschaut werden, wie sich eine Saison stemmen lasse, erzählt der Mainzer Co-Trainer Schmidtke. Auch ob die Mainzer als Meister im kommenden Jahr in der Champions League starten, wozu sie sportlich berechtigt sind, stehe noch nicht fest.
Roos bastelt auch abseits des Fußballs an ihrer Zukunft, studiert seit Kurzem Geografie und Mathematik auf Lehramt. «Lehrerin finde ich schon ganz cool und Lehrer braucht man ja auch», sagt sie. Auf dem Rasen würde sie gerne mal Teil eines Frauenteams sein. Dass sie es geschafft hat, sich das Trikot eines Bundesligisten und des deutschen Nationalteams überstreifen zu dürfen, findet sie unglaublich: «Davon träumt jeder.»
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