Julian Nagelsmann wusste, auf was er sich einließ. Bundestrainer zu sein, ist einer der reizvollsten, zugleich aber auch herausforderndsten Arbeitsplätze im deutschen Fußball. Zuvor hat der 36-Jährige den FC Bayern trainiert. Nicht minder anspruchsvoll.
Sowohl die Tätigkeit in München als auch jene beim DFB zeichnet aus, dass bei ausbleibendem Erfolg rasch Unruhe aufkommt. Als Nationaltrainer kommt erschwerend hinzu, dass er noch weniger Zeit bekommt, seine Ideen umzusetzen. In rund einem halben Jahr beginnt die EM im eigenen Land, Erfolgserlebnisse und Euphorie wären da zuträglich. Erst recht nach dem ernüchternden 2:3 gegen die Türkei.
0:2 gegen Österreich: Konfuses Spiel, verdiente Niederlage
Das letzte Testspiel des Jahres in Wien barg Chancen und Risiken. Einerseits konnten Mannschaft und Trainer sich mit einem guten Eindruck in die viermonatige Nationalmannschaftspause verabschieden, andererseits drohte ein weiterer Stimmungsdämpfer im prestigeträchtigen Nachbarschaftsduell.
Genau das widerfuhr der deutschen Nationalmannschaft. Wie wenige Tage zuvor, legte sie einen erschreckend schwachen Auftritt hin, zeigte sich teils konfus und verlor völlig verdient 0:2 (0:1). Wobei dieses Ergebnis den Deutschen noch schmeichelte.
Nagelsmann veränderte seine Startformation auf drei Positionen gegenüber der Niederlage am Samstag. Mats Hummels, Leon Goretzka und Serge Gnabry ersetzten Benjamin Henrichs, Florian Wirtz und Joshua Kimmich. Vor allem letztere Personalie dürfte für weitere Diskussionen sorgen. Nagelsmann hatte sich gegen das Mittelfeld-Duo mit Kimmich und Kapitän Ilkay Gündogan entschieden. „Wir wollen auf dieser Position Variabilität testen“, begründete Nagelsmann vor dem Spiel. Keine Veränderung erzwang der Bundestrainer auf der linken Abwehrseite, er hielt am offensiv denkenden Kai Havertz fest, den er tags zuvor in der Pressekonferenz vehement verteidigt hatte.
Die schwache Defensive bleibt ein Problem der Nationalmannschaft
Ein Problem, das Nagelsmann lösen muss, ist die wacklige Defensive. Zwei Gegentore hatte das DFB-Team in diesem Jahr pro Spiel kassiert, auch gegen Österreich drohte gleich zu Beginn einige Male der Rückstand. Christoph Baumgartners Schuss lenkte Antonio Rüdiger ans Außennetz (2.), danach ließ der ehemalige Augsburger Michael Gregoritsch fahrlässig die Führung liegen, als er erst neben den rechten Pfosten schoss (12.) und wenig später an Deutschlands Torhüter Kevin Trapp scheiterte (17.).
Die Österreicher agierten, angestachelt von der lärmenden Masse rot-weißer Anhängerschaft, nun noch selbstbewusster. Sichtlich unzufrieden tigerte Nagelsmann durch seine Coaching-Zone, gestikulierte und schimpfte vor sich hin. Seine Spieler bemühten sich um Kontrolle, doch diese übten die Mannen von ÖFB-Teamchef Ralf Rangnick aus. Es bedurfte einer Einzelaktion von Leroy Sané, um sich dem gegnerischen Strafraum anzunähern.
Sané fliegt nach Frust-Tritt mit Rot vom Platz
Aus dem spielerischen Übergewicht folgte mit Verzögerung das 1:0 für die Gastgeber. Baumgartner setzte Marcel Sabitzer in Szene, der Jonathan Tah mit seinem Schuss tunnelte, ehe der Ball im kurzen Eck einschlug (29.). Die Österreicher hatten nun auch im Ergebnis gezeigt, dass sie den Deutschen wehtun können. Nur Zentimeter fehlten, sonst hätte Baumgartner noch vor der Pause den zweiten Treffer folgen lassen (43.). In einem Tritt Sanés gegen Stefan Posch offenbarte sich sämtlicher Frust, der sich im ersten Spielabschnitt angestaut hatte. Wenn man so wollte, die erste Emotion eines DFB-Spielers.
Mit Thomas Müller schickte Nagelsmann nach der Pause zusätzliche Mentalität auf den Platz. Wie blank die Nerven lagen, verdeutlichte Sané. Erst foulte dieser, dann fasste er Phillipp Mwene an den Hals und schubste ihn zu Boden. Folge: eine berechtigte Rote Karte (49.). Als wäre es nicht schon schwer genug, hatte Österreich nun auch noch einen Spieler mehr auf dem Rasen. Mit Wirtz, Kimmich, Henrichs und Robert Andrich sollte sich das fragile Gerüst stabilisieren, doch einmal mehr hätte Gregoritsch treffen müssen (64.). Für die frühe Entscheidung sorgte der überragende Baumgartner, als er Trapp zum 2:0 überlupfte (73.). „Oh, wie ist das schön“ hallte durchs weite Rund des Ernst-Happel-Stadions, gefolgt von einer Laola-Welle. Kimmich und Wirtz versuchten sich am Anschlusstreffer, scheiterten aber.
Nagelsmann hat nun unzählige Probleme zu lösen. Fehlende EM-Euphorie ist das kleinste davon.