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Nationalmannschaft: Die Entfremdung von Joachim Löw: Scho’ au’ seltsam irgendwie

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Die Entfremdung von Joachim Löw: Scho’ au’ seltsam irgendwie

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    Joachim Löw führte die deutsche Nationalmannschaft zum WM-Titel. Doch der Ruhm ist verblast. Fraglich, ob er die Mannschaft bei der EM im kommenden Jahr noch motivieren kann.
    Joachim Löw führte die deutsche Nationalmannschaft zum WM-Titel. Doch der Ruhm ist verblast. Fraglich, ob er die Mannschaft bei der EM im kommenden Jahr noch motivieren kann. Foto: Federico Gambarini, dpa

    Dann auch noch Mesut Özil. Der ehemalige Nationalspieler reihte sich munter ein in die Reihe jener, die dem Bundestrainer ungefragt mit Rat zur Seite stehen. Joachim Löw solle doch bitte Jérôme Boateng wieder in die Nationalmannschaft beordern, forderte Özil auf Twitter. Eine Idee, die der aufs fußballerische Abstellgleis geratene Özil freilich nicht exklusiv hat.

     Löw hatte sich als einer der wenigen auch dann noch vor Özil gestellt, als dieser schon mehr Problemfall als Ausnahmespieler war. Özil, ausgerechnet Özil fällt ihm jetzt auch noch in den Rücken.

    Aus Sicht des Bundestrainers lässt die Argumentationskette seiner Kritiker diesmal blöderweise auch nicht jene Lücken, an denen sie zu anderen Zeiten als schlichte Stammtischparolen zu erkennen sind. Löw nutzte das vergangene Spiel nicht als Experimentierfeld. Er beorderte die – seiner Meinung nach – elf besten Spieler aufs Feld, die ihm der deutsche Fußball derzeit bietet. Löws Mannschaft ging unter, ertrank in der Kombinationsflut der Spanier. Das 0:6 von Sevilla offenbarte sämtliche Probleme, die schon beseitigt schienen – und schufen noch dazu ein neues: größte Zweifel an der Befähigung Löws, die Mannschaft im kommenden Jahr zu einer zumindest versöhnlichen Europameisterschaft zu führen.

    Joachim Löw ist erschrocken nach dem 0:6 gegen Spanien

    Seine Mannschaft sei "nicht so weit wie erhofft und geglaubt", räumte ein sichtlich erschrockener Löw nach der Partie ein. Entgleiten dem Mann Dreiwettertaftigkeit in Frisur und Mimik, erhalten seine Sätze ungeahnte Dringlichkeit. Wer Löw vor Spielen hört, gibt ihm nicht immer recht, kann aber zumindest seine Beweggründe verstehen. Der 60-Jährige versteht es, nachvollziehbar zu erklären, warum er wie spielen lassen will. Das 0:6 aber schockte auch ihn.

    "Irgendwie war das ein rabenschwarzer Tag von uns."

    "Wir sind irgendwie irgendwo herumgelaufen."

    "Das war irgendwie tödlich."

    Irgendwie hatte Löw keine Antwort darauf, weshalb seine Mannschaft denn nun derart vorgeführt wurde. Dabei darf nicht vergessen werden, dass Löw das schnöde Adverb "irgendwie" auch dann benutzt, wenn er sich präzise ausdrückt. Ähnlich wie jene Menschen, die ihren Sätzen ein "ehrlich gesagt" vorausschicken – sie aber auch ansonsten nicht zur Lüge neigen.

    Es ist eine der Eigenarten, mit denen die Deutschen schon lange ihren Frieden gemacht hatten. Als Joachim Löw die Nationalmannschaft 2006 von Jürgen Klinsmann in Erbfolge übernahm, produzierten die Radiosender mit ihren Stimmen-Imitatoren reihenweise Persiflagen. Zu ulkig war der badische Singsang. Da schwang scho’ au’ Freude am vermeintlich Provinziellen des Bundestrainers mit. Ähnlich wie bei Angela Merkel, die auch nie ein Geheimnis aus ihren heimatlichen Gefühlen für die Uckermark gemacht hat. Bundestrainer und Bundeskanzlerin: Beide sind lange im Amt, gehen auf die Zielgerade. Beide haben ihre Arbeit meistens auf ähnliche Weise versehen: ohne laute Töne und Provokationen. Nun müssen sie die größten Herausforderungen ihrer Amtszeit meistern.

    Wie die Deutschen zu Bundestrainer Löw stehen

    Nach dem 0:6-Debakel gegen Spanien ist der Großteil der Fußballfans in Deutschland laut einer Umfrage für einen Rücktritt von Bundestrainer Joachim Löw. 66 Prozent der Fußballinteressierten sprachen sich in einer Forsa-Umfrage im Auftrag von RTL und ntv für einen Löw-Rücktritt aus. Unter allen Bundesbürgern ist fast jeder Zweite für einen solchen Schritt des Bundestrainers. Beim Deutschen Fußball-Bund ist ein Rücktritt oder eine Entlassung Löws jedoch derzeit kein Thema.

    Als Wunschkandidat für den Trainerposten gilt vielen Befragten Liverpool-Trainer Jürgen Klopp. Er wurde von 62 Prozent derjenigen, die sich für einen Löw-Rücktritt aussprachen, als geeigneter Nachfolger genannt. Weitere Kandidaten wie Hansi Flick (19 Prozent) oder Thomas Tuchel und Ralf Rangnick (13 Prozent) folgen mit weitem Abstand.

    Für rund jeden zweiten Bürger und rund zwei Drittel der Fußballinteressierten sollten auch die von Löw aussortierten ehemaligen Leistungsträger Mats Hummels oder Thomas Müller wieder im Kader der Nationalmannschaft stehen. Deutlich weniger sahen das bei Jérôme Boateng oder Mario Götze so. Rund jeder fünfte Interessierte meinte, dass keiner der genannten Spieler in die Nationalmannschaft zurückkehren sollte.

    Was Jogi Löw mi Angela Merkel gemeinsam hat - und was nicht

    Dabei hat Löw einen Vorteil: Während sich Merkel mit 16 Ministerpräsidenten herumplagen muss, Kritikern aus der eigenen Partei die Stirn bietet und einem immer aufmüpfigeren Volk Wasserwerfer entgegenstellen muss, kann der Bundestrainer immer noch weitgehend unbehelligt seiner Arbeit nachgehen. Keiner der 18 Bundesliga-Trainer strebt es derzeit an, ihn abzulösen. Sollte es Widerstand in den eigenen Reihen geben, drang er bislang zumindest nicht nach außen.

    Zusammen mit Oliver Bierhoff hat sich Löw innerhalb des Deutschen Fußball-Bunds Freiräume geschaffen wie keiner seiner Amtsvorgänger. Als eindringlichster Berater gilt immer noch der Schweizer Urs Siegenthaler, der zwar kaum öffentlich in Erscheinung tritt, der mit seinen taktischen Expertisen aber einer der wichtigsten Einflüsterer Löws ist – und das bereits seit 15 Jahren. Co-Trainer Marcus Sorg assistiert seit 2016 und Torwart-Trainer Andreas Köpke stieß beinahe gleichzeitig mit Löw zum DFB. Zusammen mit dem für die Nationalmannschaft verantwortlichen Direktor Bierhoff bilden sie eine Hausmacht, die kaum aufzubrechen ist.

    Auch Oliver Bierhoff arbeitet schon lange für den DFB. Zu lange?
    Auch Oliver Bierhoff arbeitet schon lange für den DFB. Zu lange? Foto: Alex Grimm, Getty Images Europe, DFB, dpa

    Lange galt dieser Kern als Energiezentrum. In den vergangenen Jahren aber geheimbündelte die Männer-Clique manch irrwitzige Idee aus.

    Vor der WM in Russland verfiel Bierhoff darauf, "das Turnier vom Ende weg zu denken". Das Ende, das Finale in Moskau. Nichts anderes erwarteten die Deutschen. Also buchte der DFB seine Mannschaft unweit Moskaus in Watutinki ein. In einem Hotel, dem Löw "den Charme einer Sportschule attestierte". Überall sichtbar der Slogan, dem sich "Die Mannschaft" (auch das geht auf Bierhoff zurück) während der WM hingeben sollte: #zsmmn. Zusammen als Mannschaft kam das Ende viel zu früh. Zwei missglückte Spiele reichten, um den deutschen Fußball in die größte Krise seit dem EM-Vorrunden-Aus 2004 zu schicken.

    Immerhin zeigten sich Löw und Bierhoff hernach geläutert. 65 Tage nach der WM erklärten sie während einer Pressekonferenz in der Münchner Allianz-Arena, warum denn nun alles so gnadenlos danebengegangen sei. "Beinahe arrogant" habe er den Ballbesitzfußball auf die Spitze treiben wollen, erklärte der Bundestrainer. Bierhoff kündigte an, sich mit den "Stakeholdern abstimmen" zu wollen, ob es mit der Vermarktung vielleicht ein bisschen viel gewesen sei. Statt Sponsoren zu befragen, hätte auch ein Gespräch mit beliebig ausgewählten Anhängern gereicht. Das Team ums Team hatte seinen Instinkt verloren und fand ihn bis heute nicht wieder.

    Spielen wohl eher nicht mehr zusammen für die Nationalmannschaft: Jerome Boateng, Mats Hummels, Thomas Müller und der ebenfalls ausgemusterte Sami Khedira.
    Spielen wohl eher nicht mehr zusammen für die Nationalmannschaft: Jerome Boateng, Mats Hummels, Thomas Müller und der ebenfalls ausgemusterte Sami Khedira. Foto: Witters

    So verbannte Löw – beim verständlichen Unterfangen, das Team neu aufzubauen – Thomas Müller, Jérôme Boateng und Mats Hummels, ohne ihnen die Tür zumindest einen Spalt weit offen zu lassen. Die auf Ballbesitz getrimmte Mannschaft sollte fortan auch mal dem Gegner weite Teile des Spielfeldes überlassen, um dann die sich öffnenden Räume zu nutzen. Die Franzosen hatten das als Weltmeister so schön vorgemacht.

    Fortan kopierte die Mannschaft Trends, statt sie selbst zu entwickeln. Das kann klappen. Tat es aber nicht. Löw experimentierte, arbeitete an einem Plan B, C und D – ohne über ein Gerüst der Kategorie A zu verfügen. Im Sommer ließ er in Spielen gegen die Schweiz und Spanien den Gegner über das komplette Feld in Manndeckung nehmen. Nach dem jüngsten Sieg gegen die Urkaine erklärte er, das habe zu seiner "Wenn-dann-Strategie" gehört. Wenn seine Mannschaft beispielsweise mal in Unterzahl agieren müsse, dann könne diese Taktik brauchbar sein.

    Ein Bild aus anderen Zeiten: Joachim Löw führte das DFB-Team 2014 zum WM-Titel.
    Ein Bild aus anderen Zeiten: Joachim Löw führte das DFB-Team 2014 zum WM-Titel. Foto: Markus Gilliar, GES/DFB/dpa

    Deutschlands Ballkünstler sollen auf einmal verteidigen

    Nach dem Sieg gegen die Ukraine konnte Löw das sagen, ohne verwirrtes Kopfschütteln zu ernten. Schließlich hatte sein Team in diesem Jahr noch keine Niederlage erlitten. Überhaupt verlor die Nationalmannschaft seit dem Rauswurf des Bayern-Trios nur eine von 17 Partien bis dahin. Wenn-dann-Strategie, total vernünftig.

    Seit Dienstagabend könnte Löw behaupten, zwei plus zwei sei vier, und die allermeisten würden zur Sicherheit erst mal ihren Taschenrechner befragen. Seine Mannschaft lief über die komplette Spielzeit planlos den spanischen Pass-Kaskaden hinterher. Fünf Spieler des FC Bayern standen in der Startelf. Dazu die künstlerisch veranlagten Ilkay Gündogan und Toni Kroos sowie der schnelle Timo Werner und der angriffslustige Linksverteidiger Philipp Max. Sie alle sind es von ihren Heimatvereinen gewohnt, den Ball in den eigenen Reihen zu halten, und sollte er doch mal verloren gehen, holt man ihn sich gefälligst schleunigst zurück.

    Löw aber beorderte seine Auswahl in die selbst gewählte Defensive. Es gibt Mannschaften, die haben das Verteidigen zur Kunst erhoben. Atlético Madrid etwa. Aber Löw ist kein Macho wie Diego Simeone. Löw hat sich selbst verraten. Er ist ein Freund des schönen Spiels, selbst eher freischwebender Künstler als Malocher. Die eigene Persönlichkeit bei der Strategie-Auswahl zu verleugnen, geht selten gut.

    Es gäbe es wohl keinen Besseren, um das arg ramponierte Image des DFB-Teams aufzupolieren: Jürgen Klopp - bis 2024 in Liverpool gebunden.
    Es gäbe es wohl keinen Besseren, um das arg ramponierte Image des DFB-Teams aufzupolieren: Jürgen Klopp - bis 2024 in Liverpool gebunden. Foto: Luca Bruno/AP, dpa

    Die Mannschaften von Jürgen Klopp beispielsweise: Immer kraftvoll nach vorne weg. Löw aber wollte seine Abwehr abdichten. Blöd, dass er kein Fußball-Installateur, sondern Freigeist ist. Einer, der so entkoppelt scheint, dass er glaubt, noch kurz vor dem Aufprall die Nationalmannschaft selbst und alleine wieder zum Fliegen zu bringen.

    Die Nationalmannschaft spielte mit Müller, Boateng und Hummels eine desaströse WM. Sie machte später gute und weniger gute Partien ohne die drei. Wohl und Wehe des deutschen Fußballs liegen nicht an drei Spielern, deren besten Jahre nun auch schon zurückliegen.

    Wohl und Wehe der Nationalmannschaft liegen in den Händen von Joachim Löw. Daran wird sich bis zur Europameisterschaft nichts ändern. Selbst die ansonsten so kritische Experten-Schar räumt ihm diese sieben Monate noch ein. "Im Endeffekt standen da Spieler auf dem Platz, die sehr wohl eine gewisse Qualität und zum Teil auch große Erfahrung haben. Und wenn diese Jungs das nicht abrufen, muss man auch mal mit dem Finger auf sie zeigen und nicht nur auf Jogi Löw", sagte etwa Stefan Effenberg.

    Wer aber könnte auf Jogi Löw folgen?

    Mehmet Scholl sprach schließlich Löw frei von Schuld:"Das hat nichts mit Löw zu tun, er kann eine Fehlentwicklung nicht an wenigen Tagen auffangen. Die neue Generation sind noch keine Gewinner." Zu der neuen Generation gehören unter anderem Manuel Neuer, Toni Kroos und Ilkay Gündogan. Das Durchschnittsalter der Spanien-Verlierer war mit 26,7 Jahren nur unmaßgeblich jünger als jenes der Mannschaft, die 2018 in der Vorrunde ausschied. Die Spieler des FC Bayern gewannen vor wenigen Monaten das Triple. Erfahrung? Gewinner-Mentalität? Beides vorhanden. Selbst der nicht zwingend auf Zurückhaltung bedachte Lothar Matthäus rät aber davon ab, den Bundestrainer vor der EM auszutauschen.

    Freilich mangelt es auch an Alternativen. Jürgen Klopp ist in Liverpool noch bis 2024 gebunden, Hansi Flick steht in München bis 2023 unter Vertrag. Thomas Tuchel allerdings wäre schon 2021 zu haben, falls er nicht doch noch in Paris verlängert. Der sperrige Tuchel statt des zum DFB-Interieur gehörenden Löws? Scho’ au’ seltsam irgendwie. Ehrlich gesagt.

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