Obwohl der Tag schon reichlich hektisch begonnen hatte, dauerte es bis 23.20 Uhr, ehe Joachim Löw erstmals einen ratlosen Eindruck machte. Am Donnerstagmorgen brachte der positive Corona-Test von Jonas Hofmann "die Abläufe durcheinander", berichtete der Bundestrainer. Statt nun vor dem Mittagessen mit seinen Spielern zu reden, verschob er die Besprechungen eben auf "nach dem Kaffee". Mag auch eine Pandemie an der Durchführung eines Länderspiel kratzen - auf die richtige Reihenfolge der Mahlzeiten wird in der deutschen Nationalmannschaft nicht verzichtet.
Als die Uhr sich aber langsam dem Tageswechsel näherte, wusste Löw kurzzeitig nicht weiter. Seine Mannschaft hatte beim 3:0-Sieg gegen Island einen viel besseren Eindruck hinterlassen als noch im vergangenen Jahr. Vor allem das Mittelfeld-Trio Leon Goretzka/Ilkay Gündogan/Joshua Kimmich deutete an, dass es höchsten internationalen Ansprüchen entsprechen könnte. "Das ist schon ein Pfund von uns", lobte Löw. Ein Pfund allerdings, das Löw kurzzeitig ratlos wirken ließ.
Ist da noch Platz für Toni Kroos in der Nationalmannschaft?
Denn die große Konstante des deutschen Mittelfelds stand diesmal gar nicht auf dem Feld. Toni Kroos muss auf den Länderspiel-Dreierpack verletzungsbedingt verzichten. Weil aber die Gestaltung des Spiels auch ohne sein Wirken recht frisch daherkam, sollte Löw die Frage beantworten, wo denn nun noch Platz für den Madrilenen sei. Der Bundestrainer stutzt kurz und fragte dann: "Warum sollte Toni Kroos um seinen Platz fürchten?" Man hätte antworten können, dass der 31-Jährige im vergangenen Jahr nicht zwingend im Nationaldress überzeugt hat. Dass er sich dem 0:6 in Spanien ebenso wehrlos fügte, wie der Rest Mannschaft - allerdings als Führungsspieler. Dass es ihm gegenüber Goretzka und Kimmich an Aggressivität sowie Geschwindigkeit fehlt und Gündogan mittlerweile das Toreschießen für sich entdeckt hat.
Löw aber sieht in Kroos immer noch den herausragenden Strategen seiner Mannschaft. Alleine steht er mit dieser Meinung nun auch nicht, er teilt sie unter anderem mit Zinedine Zidane, der Kroos während der täglichen Arbeit in Madrid betreut. Noch kann Löw gelassen, vielleicht sogar mit Freude, auf dieses Problem schauen. Im vergangenen Jahr sah es nicht zwingend danach aus, als könnte es in der deutschen Mannschaft ein Überangebot fähiger Mittelfeldmacher geben. "Da kann sich schnell viel tun und während der EM brauchen wir sowieso mehr als elf Spieler", schob Löw das Thema schließlich beiseite.
Außerdem erklärte er, vor dem Turnier nochmals darüber nachzudenken, Kimmich vielleicht doch als Rechtsverteidiger auflaufen zu lassen. Gegen Island konnte dort Lukas Klostermann nicht komplett überzeugen. Ansonsten aber zeigte sich die Mannschaft energisch und spielstark wie schon lange nicht mehr, auch wenn der Bundestrainer mit der zweiten Halbzeit nicht mehr komplett zufrieden war. Zu viele Rückpässe, zu wenige Torchancen - Luxusprobleme angesichts des nie gefährdeten Erfolgs, für den hauptsächlich die Spieler des FC Bayern verantwortlich waren. Goretzka und Kimmich lenkten, Serge Gnabry und Leroy Sané wirbelten. Schließlich durfte auch noch Jamal Musiala sein Länderspieldebüt feiern .
Goretzka und Havertz sorgen für klare Verhältnisse in der DFB-Elf
Selbstverständlich kam der Spielverlauf dem deutschen Vorhaben entgegen, einen klaren Sieg zu feiern. Allerdings investierte die Mannschaft auch entsprechend viel, um durch Goretzka (3.) und Kai Havertz (7.) früh 2:0 in Führung zu gehen. "Klasse herausgespielt" attestierte Löw den beiden Treffern. Das Team habe aber auch gewusst, "dass wir unter besonderer Beobachtung stehen". Das zeigte sich auch bei der Einschaltquote. Im Schnitt 6,78 Millionen Zuschauer verfolgten das Spiel auf RTL. Für den Sender eine klare Steigerung im Vergleich zu seiner letzten Länderspiel-Übertragung. Beim 1:0-Sieg des DFB-Teams gegen Tschechien am 11. November 2020 hatten im Schnitt nur 5,42 Millionen Interessierte eingeschaltet am Bildschirm. Das 0:6 gegen Spanien hatten am 17. November 7,34 Millionen Menschen in der ARD verfolgt. Die öffentlich-rechtlichen Sender haben aber von jeher höhere Einschaltquoten.
Neben dem Interesse für den ersten Auftritt von Uli Hoeneß als Experte, spielte selbstverständlich auch der angekündigte Rücktritt von Löw eine Rolle für den Quotensprung. Seine Mannschaft zeigte schnell, dass sie tatsächlich gewillt ist, ihm den Rest seiner Amtszeit so angenehm wie möglich zu gestalten.
Allerdings sind die Gegner bis zum Start der EM nicht dazu angetan, ernsthafte Erkenntnisse zur Wettbewerbsfähigkeit dieses Teams zu erlangen. Am Sonntag spielt die Deutschen in Rumänien (20.45 Uhr, RTL), kommenden Mittwoch gegen Nordmazedonien. Im abschließenden Testspiel vor der EM stellt sich Lettland als Sparringspartner zur Verfügung. Allesamt keine Gegner, die auf den ersten Gegner des Turniers vorbereiten: Weltmeister Frankreich.
Lesen Sie auch:
- Warum ein WM-Boykott des DFB der falsche Weg wäre
- Joachim Löw vor Spiel gegen Island: "Keine Rücksicht nehmen"
- Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft in der Einzelkritik