Nein, Sie haben sich nicht verlesen. Dieser Text befasst sich tatsächlich und ernsthaft damit, warum die deutsche Nationalmannschaft bei der EM den Titel holen könnte. Ja, wirklich: im Fußball. Dass diese These angesichts der jüngsten Ereignisse der DFB-Elf (spanische 0:6-Klatsche, 1:2-Abreibung vom Fußball-Riesen Nordmazedonien) etwas steil wirkt, ist auch dem Autor dieser Zeilen bewusst.
Und doch: Warum denn eigentlich nicht? Natürlich gibt es die Franzosen, Belgier, Engländer, Spanier und Portugiesen, die vor den Deutschen zu stehen scheinen. Aber wenn man sich diese Nationen etwas genauer ansieht, bröckelt deren Favoritenstellung ganz gewaltig: Belgien und England gelten zurecht als Mitfavoriten, weil deren Einzelspieler über höchste individuelle Klasse verfügen.
Belgiens Goldene Generation wird seit Jahren gehypt - und hat nichts gewonnen
Zugleich wird die goldene Generation Belgiens seit Jahren gehypt und hat noch nie etwas gewonnen – soll sich das jetzt ernsthaft ändern? Viele gute Spieler machen noch keine Sieger-Mannschaft. Die Engländer sind ebenso hoch veranlagt - doch die meisten Kicker sind gerade mal ein paar Jahre erst volljährig. Neben dieser Jugendlichkeit bleibt das alte Problem der Angelsachsen: Wo genau im Kader soll sich der deutlich überdurchschnittlich bis sehr gute Torhüter versteckt haben?
Portugal mag amtierender Europameister sein, aber die Auftritte der Mannschaft haben zuletzt kaum jemanden vom Hocker gerissen. Zudem nagt selbst an Cristiano Ronaldo der Zahn der Zeit. Die Franzosen sind zwar durchgehend mit Weltklasseleuten bestückt, aber wie schwer ein Turnier ist, in das man als Weltmeister geht, musste die Grande Nation ebenso schon erfahren wie die DFB-Elf. Dazu kommt der einigermaßen extravagante Schachzug von Nationaltrainer Deschamps, den nach einer Erpressungsaffäre im Mannschaftskreis nicht gerade beliebten Karim Benzema wieder in den Kader zu holen. Und die Spanier? Die wiegen sich nach dem 6:0 gegen Deutschland in Sicherheit. Sollen Sie mal.
Die Erwartungshaltung an die deutsche Nationalmannschaft war noch nie so niedrig
In der DFB-Elf könnten hingegen mehrere Trümpfe zusammenkommen: Die Erwartungshaltung ist nicht gerade überbordend. Die katastrophale WM und die anschließende Bauchlandung bei der Nations League haben auch den Letzten geerdet. Dabei ist die Mischung im Kader vor allem seit den Comebacks von Hummels und Müller ideal: Neben den beiden erfahrenen Leadern stehen weitere Routiniers wie Kroos oder Neuer parat. Dazu haben junge Spieler wie Havertz oder Neuhaus im vergangenen Jahr nochmals einen Entwicklungsschritt gemacht. Andere wie Kimmich und Goretzka scheinen auf dem Leistungshöhepunkt angekommen. Die Jokerqualität von Jamal Musiala sollte zudem niemand unterschätzen.
Löws feststehender Abgang könnte zu einem großen Trumpf werden
Das wichtigste Argument von allen könnte zudem einer liefern, der bald nicht mehr da ist: Joachim Löw. Der Bundestrainer ist schon bei der Nominierung über seinen Schatten gesprungen und hat Volland, Müller und Hummels völlig zurecht zurückgeholt. Schien zuletzt der Saft nach 15 Jahren raus zu sein, ist bei dem Coach der Wille erkennbar, sich unbedingt mit einem Erfolgserlebnis verabschieden zu wollen. Dieser Impuls könnte zusammen mit der wohl geringsten Erwartungshaltung seit Jahrzehnten etwas bewirken, was zum jetzigen Stand noch sehr verwegen scheint.
Dieser Artikel ist Teil der EM-Beilage unserer Redaktion.
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